Alba Berlin hat einen „Big Man“ verpflichtet, der sowohl als Power Forward als auch als Center eingesetzt werden kann. Auf Oscar da Silva setzt der Club langfristig große Hoffnungen.
John Patrick ist ein gestandener Mann im Alter von 53 Jahren, und der Amerikaner ist als Familienvater von fünf Kindern einigen Kummer gewöhnt. Auch die Basketballspieler, die er in seiner langen Trainerlaufbahn begleitet hat, waren nicht alle pflegeleicht. Doch das hatte auch John Patrick noch nicht erlebt: Kurz vor dem Saisonauftakt der MHP Riesen Ludwigsburg bei den Hamburg Towers (88:87) hatte sich Jungstar Oscar da Silva einfach vom Team abgesetzt und war Richtung Berlin gereist. Sein Ziel: Alba als neuen Club, Berlin als neuen Wohnort. „Bei meinen Besuchen habe ich oft gedacht, dass ich hier gern mal länger leben würde“, sagte er.
Und der 23-Jährige erreichte sein Ziel, auch wenn die Art und Weise seines Wechsels einen bitteren Beigeschmack hat. „Das ist mein 23. Jahr als Headcoach, und ich habe sowas noch nie gesehen. Er ist einfach abgehauen!“, wetterte Patrick. Er ist als Disziplin-Fanatiker bekannt, also stand schnell fest, dass Da Silva nach seiner Streik-Aktion bei ihm keine Chance mehr haben würde. Der Transfer war nur noch eine Frage der Zeit. Ludwigsburg, Da Silva und Berlin einigten sich nach einigen zähen Verhandlungen, angeblich floss eine Ablösesumme von 50.000 Euro. Der Power Forward darf beim EuroLeague-Starter die nächste Stufe auf der Karriereleiter erklimmen. „Der Alba-Trainerstab legt viel Wert darauf, junge Spieler aufzubauen und einzusetzen“, sagte Da Silva: „Ich freue mich sehr darauf, in diesem Umfeld den nächsten Schritt zu machen.“
Er unterschrieb einen ungewöhnlich langen Vertrag bis 2024, denn in Berlin sind sie von seinen sportlichen Qualitäten uneingeschränkt überzeugt. „Er bringt ein Profil mit, das in unserem Spiel sehr wichtig ist: Oscar ist ein Spieler, der auf der Power-Forward- und Center-Position eingesetzt werden kann“, sagte Sportdirektor Himar Ojeda. Die verletzten Center Christ Koumadje und Johannes Thiemann fallen noch etwas länger aus, ein Big Man wie der 2,06 m große Da Silva kommt da gerade recht.
In seinen ersten Spielen im Alba-Dress bewies der Sohn einer deutschen Mutter und eines brasilianischen Vaters auf Anhieb seine Qualitäten. Beim jüngsten 92:74-Auswärtssieg bei EWE Baskets Oldenburg brillierte Da Silva mit 21 Punkten, vier Assists und drei Blocks und sehr viel Spielverständnis. „Dass es für ihn so gut läuft, ist irre“, sagte Geschäftsführer Marco Baldi: „Er hat eine Menge Qualität und auch viel Entwicklungspotenzial.“
„Er ist einfach abgehauen!“
Da Silva benötigt kaum Eingewöhnungszeit, um nachhaltig auf sich aufmerksam zu machen. Er beweist auf Anhieb seine Vielseitigkeit, übt offensiv wie defensiv großen Einfluss aus und agiert als Abroller im Pick-and-Roll überaus stark. Seine Wurfquote ist stabil, seine Körpertäuschungen und geschmeidigen Bewegungen sind eine Augenweide. Beim EuroLeague-Sieg gegen den türkischen Topclub Fenerbahçe Istanbul begeisterte der Neuzugang die Fans mit einem Dunk der Extraklasse, als er in den Schlusssekunden den Ball nach einem Alley-Oop-Anspiel mit dem Rücken zum Korb annahm und nach einer halben Drehung in der Luft im Korb versenkte.
Auffällig ist, dass das Zusammenspiel von Da Silva mit Luke Sikma bereits prächtig funktioniert. Abzuwarten bleibt, welche Rolle dem Neuzugang zukommt, wenn die aktuell verletzten Center wieder zurückkehren. Für die Alba-Verantwortlichen ist aber klar, dass Da Silva ein wichtiger Faktor bleiben wird. „Wir haben Oscar bereits seit Jahren beobachtet“, sagte Ojeda, „auch schon, bevor er ans College ging“. An der Stanford University studierte er Biochemie, doch für Aufsehen sorgte er mit seinen teils famosen Auftritten in der College-Liga NCAA. Für die Stanford Cardinal lief Da Silva insgesamt vier Jahre auf, in seiner letzten Saison bestach er mit durchschnittlich 18,5 Punkten, 6,7 Rebounds, 2,4 Assists und 1,0 Blocks. Da Silva wurde ins „First Team“ der Liga gewählt, die Elite-Uni verlieh ihm zudem für seine akademischen Leistungen den „Scholar of the Year“-Award. Nach dem Ende am College wollte der gebürtige Münchner, der bei der DJK SB München und MTSV Schwabing ausgebildet wurde, nach Deutschland zurückkehren. Die Ludwigsburger schlugen zu und verpflichteten den Rookie, der in seinen 17 Partien für die Riesen vollauf überzeugte. Für Da Silva war es aber nur ein Sprungbrett zu den Berlinern, die mit dem A2-Nationalspieler viel vorhaben.
Sportdirektor Ojeda glaubt nicht, dass Da Silva ein Charakter-Problem hat, nur weil dieser mit Vehemenz auf einen Wechsel nach Berlin gepocht hatte: „Seine Persönlichkeit und seine Art, Basketball zu spielen, passen gut zu unserem Team. Ich bin sicher, dass er sich hier positiv entwickeln wird.“ Da Silva sieht in dem Wechsel „eine Riesenchance und eine neue Perspektive“, die er mit Stolz angehen wolle: „Beim amtierenden Deutschen Meister und in der EuroLeague aufzulaufen, das ist schon eine Ehre.“ Dass ihm die Clubbosse einen Dreijahresvertrag gaben, ist für ihn Ausdruck von Wertschätzung: „Das zeigt mir, dass der Verein auch in den nächsten Jahren auf mich baut und nicht nur, weil gerade ein, zwei Spieler verletzt sind.“
„Riesenchance“ und Perspektive
Sein erstes Ligaspiel im gelb-blauen Jersey dürfte Da Silva aber lieber wieder schnell aus seinem Gedächtnis streichen wollen. Ausgerechnet beim Ex-Club Ludwigsburg, den er fluchtartig verlassen und sich damit viele Feinde gemacht hatte, feierte er seine Liga-Premiere. Alba verlor 62:74, an Da Silva (10 Punkte) lag es nicht, trotzdem machten sich die Heimfans einen Spaß daraus, den „geflohenen Sohn“, wie ihn die Stuttgarter Zeitung vor der Rückkehr beschrieb, mit Pfiffen und höhnischen Kommentaren zu empfangen. „Ich kann verstehen, dass man da ein wenig sauer ist“, sagte der Power Forward: „Der Zeitpunkt war jetzt einfach ungünstig.“ Er habe versucht, sich „davon nicht beeinflussen“ zu lassen. „Ich bin jetzt bei Alba, da ist alles andere nur Ablenkung.“
Sollte sich Da Silva doch mal vom Leben als Profisportler ablenken wollen, geht er zum Angeln. Das ist sein Hobby, seit er es im Alter von zehn Jahren zum ersten Mal ausprobiert hatte. Den ersten Lockdown während der Corona-Pandemie nutzte der Basketballer, um offiziell seinen Angelschein zu machen. So kann Da Silva ganz legal der Hektik des Profisports entschwinden und sich sein Abendessen besorgen. „Angeln ist für mich ein Ruhepol“, erklärte er: „Wenn man mal am Wochenende einen freien Tag hat, kann man auf der Spree eine Tour machen und schauen, wo man Fische fängt.“
Ein zweites Hobby ist für ihn die Wissenschaft. Seit er Biochemie an der Standford Universität studiert hat, interessiert ihn vor allem das große Feld der Pharmazie. Auch deswegen war und ist die Corona-Pandemie mit der sehr schnellen Entwicklung von Impfstoffen für ihn eine interessante Zeit. „Ich lese viele Artikel, habe auch eine wissenschaftliche Zeitung abonniert und versuche so, auf dem aktuellen Stand zu bleiben“, sagte er. Schließlich will Da Silva nach dem Karriereende zurück nach Amerika gehen und dort an einer Business School seinen Master machen.
Aber das sind Zukunftspläne. Jetzt zählen nur Alba und sein neues Leben in Berlin.