Hinter Elena Semechin liegen höchst emotionale Monate. Die Paralympics-Siegerin flog zunächst auf Wolke sieben, stürzte dann brutal ab und ist heute glücklicher denn je.
Filmproduzenten sind ja immer auf der Suche nach einer guten Story, die sie für Kino, Fernsehen oder Streamingdienst-Anbieter umsetzen können. Es wäre keine Überraschung, würden sie früher oder später auf die Lebensgeschichte von Elena Semechin stoßen. Allein die Ereignisse, die die Paralympics-Schwimmerin in diesem Jahr erlebt hat, sind filmreif: Goldener Triumph, schwerer Schicksalsschlag, großes Gefühl. Und das Drehbuch hätte auch ein Happy End parat.
„Ich bin einfach nur dankbar und noch glücklicher als je zuvor. Ich freue mich, dass es mir so gut geht." Diese Sätze sagte Semechin, die bei ihrem Gold-Coup von Tokio noch Krawzow hieß, bei der Verleihung des Silbernen Lorbeerblattes Anfang November. Dass sie die höchste Sport-Auszeichnung für ihren Paralympics-Sieg aus den Händen des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier erhielt, ist ein kleines Wunder. Und wieder so typisch Elena Semechin. Denn die sehbehinderte Athletin war nur sechs Tage zuvor wegen eines Gehirntumors operiert worden. Anschließend traten Komplikationen mit der ersten Wunde nach der Biopsie auf, die Berliner Charité konnte sie erst unmittelbar vor der Ehrung verlassen. In buchstäblich letzter Minute traf sie im „Hotel Estrel" ein – aber gerade noch rechtzeitig, um Steinmeiers warme Worte über sie hören zu können.
„Ich freue mich umso mehr, dass unsere Paralympics-Siegerin über 100 Meter Brustschwimmen unter uns ist. Nach ihrer schweren Erkrankung ist das nicht selbstverständlich", sagte das deutsche Staatsoberhaupt in seiner Rede: „Wir alle freuen uns, dass Sie Ihre Operation gut überstanden haben, und wünschen Ihnen für Ihre weitere Genesung alles Gute." Semechin strahlte überglücklich, es sei ein „besonderer Moment", weil „keiner damit gerechnet hat, dass ich da bin". Aber bei Elena Semechin sollte man am besten immer mit allem rechnen.
Vor allem ihr Plan, zwei Tage (!) vor der großen Operation zu heiraten, hatte deutschlandweit für Schlagzeilen gesorgt. Ihr langjähriger Freund und Trainer Philip Semechin solle „einfach alle Vollmachten haben, wenn doch etwas passiert", begründete die Weltrekordlerin den ungewöhnlichen Termin. Eigentlich war die Hochzeit erst für den 12. November geplant, doch plötzlich musste alles ganz schnell gehen. Es half ihr auch emotional, um mit einem besseren Gefühl den komplizierten Eingriff anzugehen. „Noch davor zu heiraten", sagte sie, habe ihr „unfassbar viel" bedeutet. Warum? „Ich wollte Phillip in meinem jetzigen Zustand heiraten", erklärte die lebensfrohe Sportlerin, „ich wusste nicht, wie ich nach der Operation sein werde."
„So glücklich, dass ich nach der OP als dieselbe Elena aufgewacht bin"
In der Tat waren die Risiken der Operation nicht gerade klein. „Es hätte sein können, dass Areale in Mitleidenschaft gezogen werden, die für Sprache, Motivation und Wille zuständig sind", sagte Semechin. Doch ihre größte Angst bestätigte sich nicht: „Ich bin so glücklich, dass ich nach der OP als dieselbe Elena aufgewacht bin und mein Leben weiterleben kann." Noch bewusster, noch intensiver, noch dankbarer. Ohne akute Angst vor dem Tod, denn der kirschgroße Tumor ist restlos entfernt worden. „Der Chirurg hat alles erwischt, es gibt keine Rückstände des Tumors in meinem Kopf", verriet Semechin. Ob sie dennoch eine Chemotherapie an die OP anschließen muss, war zunächst offen. Die MRT-Bilder gaben aber Anlass zur Hoffnung, dass dies nicht notwendig ist.
Für den Fall, dass die Operation schlecht verlaufen wäre, hatte Semechin vorgesorgt. Sie schrieb ein Testament, sogar Postings auf ihren sozialen Netzwerkseiten waren vorbereitet – falls sie sie nach dem Eingriff nicht mehr persönlich hätte verfassen können. In den Nachrichten an die Fans ging es unter anderem um anstehende Sportler-Wahlen, „da muss ich doch für mich werben", meinte sie. Semechin ist unter anderem Kandidatin bei der Wahl zur „Berliner Sportlerin des Jahres" und zu „Deutschlands Parasportlerin des Jahres".
Sportlich überzeugte Semechin, die als Spätaussiedlerin im Alter von elf Jahren mit ihren Eltern von Kasachstan nach Deutschland gezogen war, mit Schwimm-Gold über 100 Meter Brust bei den Paralympischen Spielen von Tokio. Doch ihr größter Kampf – und letztlich auch ihr größter Sieg – folgte direkt danach. Semechin klagte nach ihrer Rückkehr über Kopfschmerzen und Schwindelattacken. Nach dem Urlaub ließ sie sich beim Arzt durchchecken. Die Diagnose, die sie ausgerechnet an dem Tag erhielt, an dem sie mit ihrem Verlobten die Eheringe gekauft hatte, war ein Schlag: Gehirntumor. „Das ist eine Nachricht, die erschüttert", erinnerte sich Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS).
Semechins Welt war komplett aus den Fugen geraten – und das in der wohl glücklichsten Zeit ihres Lebens. „Dass mich ein Besuch beim Arzt so aus dem Leben reißt, hätte ich nie gedacht", sagte sie: „Mein Leben war nach den Spielen euphorisch, ich schwebte auf Wolke sieben. Die Diagnose hat mich erst mal zerstört, ich war am Boden." Aber Kämpfen – das hat die Deutsch-Russin in ihrem Leben gelernt. „Ich bin immer etwas größenwahnsinnig und radikal, was das angeht", sagte sie. Von nichts und niemanden lässt sie sich unterkriegen. „Meine Einstellung ist nicht nur in meinem Kopf, sondern auch in meinem Herzen", betonte Semechin: „Ich bin überzeugt, dass meine innere Kraft so stark sein wird, dass ich das alles schaffe." Die Vergangenheit gibt ihr recht.
Als sie sieben Jahre alt war, brach bei ihr die Erb-Erkrankung Morbus Stargardt aus. Als Folge schränkte sich ihre Sehkraft stark ein, mit einer Rest-Sehfähigkeit von zwei Prozent ist sie heute nahezu blind. Die junge Elena ließ sich aber nicht hängen, sie nahm ihr Schicksal an und versuchte, das Beste daraus zu machen. Sie besuchte das Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte in Nürnberg und fing mit dem Schwimmen an. Der Sport sei ihre „Chance fürs Leben" gewesen, so Semechin, „ich konnte was aus mir machen, selbstständig über mein Leben bestimmen." 15 Jahre nach ihrem ersten Sprung ins Wasser ist sie Paralympics-Siegerin – und ein Star. Semechin ist Deutschlands aktuell bekannteste Parasportlerin, in Sachen Social Media macht ihr im deutschen Team niemand etwas vor. Sie hat bei Instagram sogar dreimal so viele Follower wie der viermalige Paralympics-Sieger Markus Rehm. Das liegt auch an ihrer sehr offenen und kommunikativen Art, ihre Fans lässt sie sehr detailliert an ihrem Leben teilhaben. Semechin ist extrovertiert, auch deshalb zog sie sich vor einem Jahr für den „Playboy" aus. Aber nicht nur deshalb. „Die Botschaft, die hinter diesen Fotos steckt, war mir viel wichtiger", erklärte sie: „Ich glaube, dass ich vielen Menschen damit Mut und Kraft gegeben habe."
Ihre eigene Familie hat sie damit aber verärgert, „mein Vater hat mich deswegen nicht unbedingt gefeiert", erzählte sie. Medienberichte, wonach Teile ihrer kasachischen Familie nicht mehr mit ihr reden würden, seien aber unwahr: „Ich habe immer noch eine Familie. Alle stehen hinter mir." Ablehnung hätte auch nichts geändert, denn Gegenwind hält Semechin aus. Er macht sie sogar noch stärker. „Ich stehe für eine gerechte Inklusion aller Minderheiten, weil ich durch meine Sehbehinderung und Herkunft selber zu einer gehöre", sagte die Athletin. Sie kämpfe gegen die Fremdbestimmung der Frau, gegen Rassismus, gegen Behinderten-Feindlichkeit – „weil ich es selber erlebt und erfahren habe".
Ex-Schwimmerin Britta Steffen als Freundin und persönliche Heldin
Doch Semechin hat in Deutschland auch andere Seiten erlebt, vor allem im Sport gab es immer wieder Unterstützung und Hilfe. So wie die von Britta Steffen, mit der Semechin befreundet ist. Die frühere Topschwimmerin, die derzeit als Laufbahn-Beraterin am Olympia-Stützpunkt Berlin arbeitet, rettete quasi Semechins Hochzeitstermin. Denn bis kurz vor Schluss fehlte dem Brautpaar die Ehetauglichkeits-Bescheinigung, obwohl alles rechtzeitig beim Standesamt Pankow eingereicht worden war.
„Ich habe mich sofort ans Telefon gesetzt und hatte Glück. Ich bekam eine sehr nette Mitarbeiterin an die Strippe, die alles klarmachte", berichtete Steffen in der „Bild"-Zeitung über ihren Hilfseinsatz. Semechin kann der Doppel-Olympiasiegerin, der sie „auch als Schwimmerin nachgeeifert" sei, gar nicht genug danken: „Britta ist meine Heldin und hat mir nicht zum ersten Mal den Arsch gerettet. Ein wahnsinnig toller Mensch!"
Dasselbe sagen Menschen auch über Semechin. Ihre lebensfrohe Art, ihr sympathisches Lächeln und ihr großes Herz nehmen jeden ein, der sich etwas länger mit ihr unterhält. Man merkt schnell: Elene Semechin ruht in sich – trotz ihrer Sehbehinderung und den damit verbundenen Einschränkungen. „Der Sport hat mir die Kraft gegeben, stärker und selbstbewusster zu sein, hat mir geholfen, dass ich mich selbst akzeptiere."
Bis dahin war es aber kein leichter Weg, zumal Semechin fürs Schwimmen nur sehr wenig Talent mitgebracht hat. Ihr Trainer bescheinigte ihr „ein Wassergefühl wie ein Traktor". Doch kämpfen kann Semechin wie keine Zweite. Und so arbeitete sie sich in die Weltspitze vor, schon 2012 gewann sie in London Paralympics-Silber. Vier Jahre später erlebte die Sportlerin in Rio de Janeiro als Topfavoritin eine herbe Enttäuschung: Platz fünf, „die erste richtige Niederlage in meiner Karriere". Doch sie hat Semechin nur noch stärker gemacht, wie alle anderen Rückschläge im Leben auch.
Ihr neues Ziel ist der WM-Titel 2022 auf Madeira. Gut möglich, dass bis dahin noch vieles passiert im unberechenbaren Leben der Elena Semechin. Die Filmproduzenten sollten genauer hinsehen.