Wie sieht es mit dem Anstand hierzulande aus? Der Journalist und Schriftsteller Axel Hacke hat sich damit in seinem Buch „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ auseinandergesetzt und spricht im Interview darüber.
Herr Hacke, Gaffer, die Sterbende filmen, Schüler, die Lehrer attackieren, wüste Beschimpfungen bei Facebook, pöbelnde Autofahrer … Der Anstand scheint hierzulande den Bach runterzugehen. Oder?
Man darf dabei nicht vergessen, dass die allermeisten Menschen versuchen, ein anständiges Leben zu führen. Es geht hier eher um eine Minderheit, die aber dabei ist, die Mehrheit zu dominieren und damit Verhaltensweisen als akzeptabel etabliert, die nicht akzeptabel sind. Wenn selbst der amerikanische Präsident lügt und pöbelt, dann werden viele Menschen sich an seinem Verhalten orientieren. Wenn in den sozialen Medien ein Ton schlimmster Aggressivität herrscht, dann werden viele versucht sein, sich darauf einzulassen. Ja, dann wird aus verbalen Angriffen irgendwann mal eine Tat werden. Das hat es schon gegeben. Der Bürgermeister von Altena, auf den ein Messerattentat verübt wurde, sah sich vorher monatelangen Attacken im Internet ausgesetzt.
Was glauben Sie, womit es zu tun hat, dass der gute alte Anstand offenbar vielerorts an Strahlkraft verliert?
Wir haben diesem Thema nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, und wir haben die Frage, wie wir miteinander umgehen, nicht wichtig genug genommen. Was die sozialen Medien angeht, findet geradezu ein Experiment unter Teilnahme der gesamten Menschheit statt. Aus der Anonymität kann man hier andere mit Hass überziehen und wird dabei nicht zur Rechenschaft gezogen. Niederste Instinkte kann man hier straflos ausleben. Das ist etwas Neues, das wir noch gar nicht richtig verstanden haben in seinen Auswirkungen auf unser Leben. Und damit müssen wir uns endlich mehr und gründlich beschäftigen.
Sie haben sich in Ihrem Buch mit dem Anstand auseinandergesetzt. Warum dieses Thema, und was wollen Sie mit dem Buch erreichen?
Mich hat einfach die Frage interessiert, was mit dem Begriff „Anstand“, der für viele etwas verstaubt und antiquiert klingt, wirklich gemeint sein könnte und was dieses Wort uns heute in der Moderne bedeuten könnte. Ich habe das Buch nicht als Moralpredigt verfasst, so etwas liegt mir fern, sondern als eine Suche, auf die ich Leser mitnehmen will. „Anstand“ soll auf eine moderne Weise ein Thema für uns sein.
Wohin, was denken Sie, wird es sich noch entwickeln? Wird der Anstand, so wie wir ihn kennen, aussterben?
Natürlich nicht. Das Buch ist ein Riesenerfolg, und das zeigt, wie sehr dieses Thema vielen auf den Nägeln brennt. Die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte der Zivilisierung, auf diesem Weg hat es immer wieder Rückschritte gegeben, in der Nazi-Zeit bis ins absolute Barbarentum.
Aber insgesamt gesehen ist es eine Geschichte des Fortschritts. Wir leben heute in Europa, das einmal ein Kontinent der Zerstörung, des Krieges, der Seuchen war, in Frieden und Freiheit. Das ist Fortschritt, eindeutig. Aber bedroht ist das alles immer, es ist nie selbstverständlich.
Was, glauben Sie, haben moderne Erziehungsstile („Mein Kind soll sich frei entfalten!“) mit Anstandslosigkeit zu tun?
Jedes Kind soll sich frei entfalten. Aber jedes Kind soll auch lernen, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, das nur zusammen mit anderen existieren kann. Egoismus ist kein moderner Erziehungsstil. Es ist einfach Egoismus.
Ältere Menschen sagen beim Anblick junger Menschen gerne: „Die haben vor nichts mehr Respekt. Das hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben!“. War früher alles besser?
So haben Menschen wahrscheinlich zu jeder Zeit geklagt, meine Eltern haben damals genauso über „die Jugend von heute“ geredet. Mich stört auch manchmal, dass Kinder ältere Leute nicht grüßen. Aber meine Kinder haben mir auch oft erzählt, wie unverschämt und dreist sich ältere Leute ihnen gegenüber verhalten haben. Und die Pegida-Pöbler zum Beispiel sind zum Beispiel eher keine jungen Leute, oder?
Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit wieder mehr Anstand in der Gesellschaft zurückkommt?
Es muss wieder ein Thema sein, wir müssen darüber reden, und wir müssen es durchsetzen. Die Art, wie in manchen sozialen Medien Menschen auf niederste Art und Weise verfolgt und bedroht werden, muss ein Ende haben. Da geht es manchmal nicht bloß um Anstand, da müsste man teilweise nur mal dem Strafrecht Geltung verschaffen. Aber nicht einmal das geschieht.
Was ist für Sie ein anständiger Mensch?
Einer, dem gewisse Formen des Umgangs miteinander etwas bedeuten. Formen, die auf einem Sinn für Gerechtigkeit und Fairness beruhen, auf einem Gefühl grundsätzlicher Solidarität mit anderen Menschen, auf Wohlwollen, Freundlichkeit, Offenheit, Aufrichtigkeit, Rücksichtnahme, der Fähigkeit zur Selbstkritik, dem Gefühl, dass man nicht allein auf der Welt ist und andere nicht weniger Rechte haben als man selbst. Das ist eine Haltung, an der man arbeiten kann und sein ganzes Leben lang arbeiten sollte.