Mit einer Mischung aus Paternoster und Magnetschwebetechnik revolutioniert Thyssenkrupp Elevator den 165 Jahre alten Aufzug. Ergebnis: ein Mehrkabinen-System, das einen Transport im Gebäude nicht nur in der Vertikalen, sondern auch Horizontalen erlaubt.
Die älteste Stadt Baden-Württembergs war schon im Mittelalter wegen ihrer zahlreichen Türme bekannt. Seit einigen Monaten konnte die Tourist-Information von Rottweil ihr diesbezügliches Sightseeing-Angebot über historische Monumente wie den gotischen Kapellenturm oder den pittoresken Pulverturm um ein neues, ultra-modernes und stolze 246 Meter hohes Bauwerk mit Aussichtsplattform erweitern. Auch wenn der 40 Millionen Euro teure Forschungs-Tower mit einem Durchmesser von 21 Metern des Essener Unternehmens Thyssenkrupp, einem der weltweit führenden Aufzugunternehmen mit einem Umsatz von 7,5 Milliarden Euro im Geschäftsjahr 2015/2016, im historischen Stadt- und durch sanfte Hügel geprägten Landschaftsbild etwas deplatziert wirkt und zudem alle anderen Gebäude einem gigantischen Schornstein ähnlich weit überragt.
In seinem Inneren verlaufen zwölf Schächte, die einzig und allein dazu dienen, Innovationen der Aufzugstechnik zu testen. Beispielsweise Hochgeschwindigkeits-Aufzüge, die es bis auf 18 Meter pro Sekunde bringen. Oder eben das seillose Mehrkabinensystem namens „Multi", das mit fünf bis sechs Metern pro Sekunde zwar keine Temporekorde brechen möchte, aber mit dem die Konzerntochter, die hierzulande gemeinsam mit den Konkurrenten Krone, Otis und Schindler den Markt beherrscht, die weltweite Aufzugsindustrie revolutionieren möchte. Es sei angesichts der prognostizierten globalen Stadtentwicklung mit immer höheren Wolkenkratzern einfach nicht mehr zeitgemäß, sich einer Technik aus dem 19. Jahrhundert zu bedienen. Die besteht letztlich noch immer darin, Kabinen an Stahlseilen über Seilwinden hochzuziehen oder wieder herunterzulassen. Besonders in hohen Gebäuden werde dabei viel Zeit und Energie verschwendet. Zudem beanspruche diese Technik einen vergleichsweise viel zu großen Raum in dem jeweiligen Bauwerk.
Die Zukunft liegt in der Höhe
Derzeit werden weltweit mehr als zwölf Millionen Aufzüge betrieben, die täglich bei sieben Milliarden Fahrten über eine Milliarde Menschen transportieren. Überflüssige Wartezeiten sind dabei programmiert. Einer US-Studie zufolge verbringen New Yorker Büroangestellte während ihres Arbeitslebens jedes Jahr zusammengenommen rund 16,6 Jahre mit dem Warten auf den Lift, weitere 5,9 Jahre verbringen sie in den Kabinen. „Das zeigt", so Multi-Forschungsleiter Markus Jetter, „wie wichtig maximale Effizienz und Verfügbarkeit von Aufzügen ist." Vor allem in den kommenden Jahren, wenn der Bedarf an städtischen Bürogebäuden und Hochhäusern weiter wachsen wird. Es wird davon ausgegangen, dass schon 2050 rund 70 Prozent der Weltbevölkerung urban wohnen wird. Die Städte müssen in die Höhe streben, weil dies aus wirtschaftlicher und ökologischer Sicht die effizienteste Lösung für eine Vielzahl städtischer Herausforderungen darstellen wird. Eine Entwicklung, die derzeit schon in rasanter Weise in Asien, speziell im Mittleren Osten, zu beobachten ist. Der Jeddah Tower im saudiarabischen Dschidda wird bald als erstes Bauwerk des Globus die 1.000-Meter-Marke knacken. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Zahl der Gebäude, die mehr als 200 Meter hoch sind, bereits verdreifacht. 2016 waren 128 Hochhäuser jenseits dieser Höhengrenze im Bau, 2017 sind weitere 150 solcher Riesengebäude hinzugekommen, 2018 sollen weitere 155 Türme jenseits der 200 Meter-Höhe folgen. Mithin höchste Zeit für innovative Lösungen, speziell auch bezüglich der Aufzüge, weil diese die Funktionalität, das Design und die Form von Hochhäusern ganz entscheidend beeinflussen.
Die Neuentwicklung Multi kommt gänzlich ohne Seile aus. Stattdessen gleiten die Kabinen per Magnetschwebetechnik mit Hilfe von sogenannten Linear-Motoren, die Energie für rund zwei Stunden haben und während der Standzeiten durch Highspeed-Akkus aufgeladen werden, nahezu geräuschlos durch die Schächte. Was nichts anderes bedeutet, als dass die vor Jahren als Milliardengrab gescheiterte Transrapid-Technologie doch noch zu späten und neuen Ehren gebracht werden könnte. Vergleichbar dem früheren Paternoster können Dutzende von Kabinen in einer Dauerschleife innerhalb eines Umlaufsystems, ähnlich einem Ringbahnsystem auf vertikaler Ebene, gleichzeitig durch die Schächte fahren.
Über drehbare Weichen können die Kabinen zudem die horizontale Bewegungsrichtung einschlagen und dadurch zum Beispiel auch angrenzende Gebäude miteinander verbinden oder einfach auch zu anderen Schächten wechseln. Von denen müssen der Vielzahl der Kabinen wegen, die zur Energieeinsparung durch Leichtbau mit kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffen errichtet wurden, deutlich weniger installiert werden als bei konventionellen Systemen, bei denen je nach Hochhaushöhe bis zu 40 Prozent der Geschossfläche für Schächte und technische Ausstattung benötigt werden.
Deutlich weniger Platzbedarf
Der Multi ist daher nicht nur der erste seillose Aufzug der Welt, sondern auch der erste vertikal-horizontal einsatzfähige Elevator. „Dies ist vielleicht die bedeutendste Entwicklung seit Erfindung des Sicherheitsaufzugs vor gut 165 Jahren", sagt Anthony Wood, geschäftsführender Direktor des weltweit renommierten Council on Tall Buildings and Urban Habitat (CTBUH) mit Hauptsitz in Chicago, einer auf Gründung, Bau und Betrieb von hohen Gebäuden und Städten der Zukunft spezialisierten Non-Profit-Organisation. „Der ‚heilige Gral’ der Aufzugindustrie war immer, die seilgebundene und auf die Vertikale beschränkte Bewegung durch ein System abzulösen, das auch geneigte oder horizontale Fahrten ermöglicht. Multi weist den Weg zu diesem Ziel, mehr als alle anderen bisher vorgestellten Lösungen. Hierin liegt die Chance, die Industrie in großem Maßstab zu transformieren und die Art und Weise, wie große Gebäude konzipiert werden, komplett zu verändern. Multi erlaubt effizientere Kerndesigns genauso wie bessere Verbindungen in Gebäuden", betont er.
Bei Thyssenkrupp Elevator vergleicht man Multi, wegen der vielen unabhängig voneinander zirkulierenden Kabinen, mit einem über einem Gebäude verteilten U-Bahn-System. Wobei eine mehrstufige Bremstechnik für hohe Sicherheit sorgt und eine kabellose Energieübertragung vom Schacht auf die Kabine erfolgt.
Durch Multi kann der Platzbedarf des Aufzugs innerhalb eines Hochhauses laut Firmenangaben um bis zu 50 Prozent verringert und gleichzeitig die Förderleistung des Aufzugs um mindestens denselben Wert erhöht werden. Lange Wartezeiten sind angeblich ausgeschlossen, weil dank mehrerer Kabinen im selben Aufzugschacht potenzielle Fahrgäste nie länger als 15 bis 30 Sekunden ausharren müssen.
Auch ein gleichmäßiger Energieverbrauch ohne erhebliche und Kosten treibende Ausschläge nach oben im Rahmen eines effizienteren Energiemanagements soll ein weiterer Multi-Pluspunkt des Systems sein.
Erster Einsatz in Berlin geplant
Es gibt auch schon einen ersten Kunden für die neue Technologie. Der erste Multi wird in einem von dem niederländischen Unternehmen OVG Real Estate geplanten Gebäude in Berlin-Friedrichshain installiert werden – dem 142 Meter hohen East Side Tower in der Nähe der Mercedes-Benz-Arena und der Warschauer Straße. „Dort brauchen wir jetzt nur noch vier Aufzugschächte statt zwölf", freute sich OVG-Geschäfstführer Coen van Oostrom schon mal vorab. Den zusätzlichen Platz wird der CEO für ein riesiges Atrium sowie weitere Büros und Wohnungen nutzen. „Früher waren Hochhäuser wie ein Donut", sagt Coen van Oostrom, „mit einem großen Loch in der Mitte, weil dort die vielen Aufzüge hineinmüssen. Jetzt können wir ganz andere Grundrisse entwerfen." Allerdings wird Multi erst zum Einsatz kommen können, nachdem das System vom Tüv abgenommen und zertifiziert worden ist. Womit die Verantwortlichen bei thyssenkrupp Elevator aber spätestens 2019/2020 fest rechnen. Bis dahin können noch viele Tests in den drei Multi vorbehaltenen Schächten des Rottweiler Towers durchgeführt werden.