Die ÖDP war bisher unter den „Sonstigen“ zu finden. Inzwischen hat sie selbstbewusste Ziele und eine Strategie für den Einzug in den Bundestag. Jorgo Chatzimarkakis, Landeschef im Saarland, über Pragmatismus und Moralisieren in der Politik.
Herr Chatzimarkakis, die ÖDP schien lange so gut wie verschwunden, das hat sich inzwischen geändert. Was macht die „neue“ ÖDP aus?
Bundesweit haben wir bei der letzten Europawahl die Marke von 8.000 Mitgliedern geknackt, sind damit die achtgrößte Partei in Deutschland. Früher hat sicher das Christliche eine wesentliche Rolle gespielt, das hat sich etwas gewandelt. Unsere Mitglieder sind ökologisch motivierte Menschen, die aber das Moralisieren nicht brauchen. Bei den Grünen hat es sich zu den Besserverdienenden entwickelt, Menschen, die sich das Grüne leisten können. Wir sagen: Ökologie für alle, und es muss bezahlbar und machbar sein. Wenn ich verlange, dass jemand weniger Auto fährt, dann muss ich beispielsweise ein Ticket anbieten, mit dem ich kostenlos unterwegs sein kann, so wie es in Luxemburg klappt.
ÖDP und Grüne stammen aus derselben Zeit Anfang der 1990er Jahre. Beide haben ähnliche Grundthemen. Die Grünen waren schon auf dem Weg zur Volkspartei, die ÖDP gehört zu den Kleinparteien, die in der Regel unter „Sonstige“ geführt werden. Woran liegt das?
Wir haben sehr viele Experten, Fachleute, Professoren in unseren Reihen. Die suchen nicht unbedingt die politische Bühne, aber sie wollen ihr Expertenwissen in den demokratischen Prozess hineintragen. Die ÖDP möchte den Wählerinnen und Wählern die Chance geben, dieses umfassende Expertenwissen zu wählen. Und die ÖDP ist stark, wenn es um konkrete Projekte und direkte Demokratie geht. Denken sie an die Volksinitiative zum Bienenschutz in Bayern.
Woher kommen die Mitglieder?
Wir haben unsere Mitgliederzahl im Saarland seit der Wiedergründung verdreifacht, und jeder vierte davon kam von den Grünen oder war von den Grünen enttäuscht. Die meisten Neuwähler der ÖDP kommen übrigens über Wahl-O-Mat. Sie füllen dort ihre Meinungen zu Themen aus – und am Ende zeigt ihnen der Wahl-O-Mat die größten Übereinstimmungen bei der ÖDP.
Sie waren lange bei der FDP und für die Liberalen im Europaparlament. Was unterscheidet die ÖDP eigentlich von der FDP?
Für mich ist die FDP bei gesellschaftlichen Themen eher links, ob das queere Themen sind oder bunte Konzepte, aber wirtschaftspolitisch eher rechts. Bei der ÖDP ist es fast umgekehrt. Unser Gesellschaftsbild schätzt traditionelle Werte, die Familie ist zentral. Wirtschaftspolitisch treten wir für eine Gemeinwohlökonomie ein. Wir meinen damit eine Gesellschaft, in der man aufeinander Rücksicht nimmt, das Wohlergehen der Menschen und Nachhaltigkeit im Mittepunkt stehen. Wie das funktionieren kann, kann man in Steinheim (Stadt in Westfalen, Anm. d. Red.) sehen, die sich zur Gemeinwohl-Ökonomie-Kommune erklärt hat. Oder ein anderes Beispiel: Ich habe jetzt von einem Restaurant in Madrid gehört, das nur Kellner über 50 Jahre einstellt – und das mit einem Riesenerfolg. Es geht uns also darum, dass etwas praktisch und pragmatisch umgesetzt wird. Und das ohne großes Moralisieren oder Ideologie.
Die ÖDP gilt etwa auch wegen ihrer familienpolitischen Vorstellung als konservativ. Sind Sie also so etwas wie die schwarzen Grünen?
Es gab jetzt eine Studie der Konrad Adenauer Stiftung zur Frage nach „konservativ“. Interessanterweise ist den Leuten inzwischen ‚sozialverträglich‘ wichtiger als konservativ. Im Übrigen zeigt unser Grundsatzprogramm: Wir sind eine umfassende Partei, es geht um mehr als Klimaschutz und Familie.
Was zum Beispiel?
Denken Sie an die Flutkatastrophe. Da ist deutlich geworden, dass wir etwas aktiv gegen Flächenfraß und Flächenversiegelung unternehmen müssen. Praktisch alle Experten sagen, dass es zu weiteren schweren Einwirkungen der Natur kommen wird. Das ist im Grunde ja nicht neu. Die Flutkatastrophe hat aber auch andere Seiten gezeigt. Wir als ÖDP denken darüber nach, dass Freiwilligendienste, heute die Bufdis, so attraktiv gestaltet werden müssen, dass junge Leute für ein Jahr Dienst an der Gesellschaft machen, um auch im Fall eines Falles fit zu sein. Da fehlt, wie wir gesehen haben, Know-how. Annegret Kramp-Karrenbauer hatte eine Dienstpflicht ins Gespräch gebracht. Man muss es nicht als Pflicht machen, aber man muss es attraktiv machen mit Vergünstigungen, auch finanziell besser ausstatten. Beim Freiwilligen-Jahr geht es auch darum, dass man Gesellschaft besser versteht, Solidarität entwickelt. Deutschland ist ins Mittelmaß gerutscht. Da, wo man früher oben dabei war, ist man zurückgerutscht, und das nicht nur beim Fußball. Beim Katastrophenschutz hat man jetzt gemerkt, dass da vieles nicht funktioniert, bei Corona waren auch andere Länder vornedran. Es wird einiges auf uns zukommen und wir müssen uns jetzt schon darauf einstellen. Das ist keine Frage von „grün“, sondern von „vernünftig“. Und da sagen wir: Wir sind die Partei der „radikalen Vernunft“. Und die meisten Menschen schätzen vernünftige Ansätze.
Die Fünfprozenthürde ist für die ÖDP nach wie vor ziemlich hoch. Wie wollen Sie es da schaffen?
Wir haben bei der Bundestagswahl klare Ziele. Wir wollen drei Wahlkreise direkt gewinnen, wie es früher einmal der PDS gelungen ist. Bei drei direkt gewonnenen Wahlkreisen nehmen wir dann unsere Prozente mit in den Bundestag, auch wenn es weniger als fünf Prozent sind. Wir wären dann eine Gruppe im Parlament, nicht nur eine direkt gewählte Einzelperson. Die ÖDP hat für ganz Deutschland zehn Wahlkreise identifiziert, in denen es dafür gute Chancen gibt, einer davon ist der Wahlkreis von Prof. Claus Jacob (299, Homburg), unserem Spitzenkandidaten im Saarland. Das heißt, dass es dort auch etwas mehr Unterstützung durch die Bundespartei geben wird.
Sie rechnen sich Chancen gerade im Saarland aus, weil dort bekanntermaßen die Grünen zerstritten und ohne Landesliste zur Bundestagswahl da stehen?
Ökologie und Klimaschutz bleiben im Saarland wählbar. Wir treten mit einer Landesliste und unserem Spitzenkandidaten Claus Jacob und mit Kandidatinnen und Kandidaten in allen Wahlkreisen an. Und wir haben ein schlüssiges Konzept für einen sozialen und ökologischen Umbau der Gesellschaft.