Im krisengebeutelten Land Türkei dreht sich kurz vor der Präsidentschaftswahl alles um die Frage, ob Präsident Erdogan sein Amt verteidigen kann. Sein Herausforderer: der 74-jährige Kemal Kılıçdaroglu. Laut Umfragen könnte es eng für den Amtsinhaber werden.
Istanbul, die weltoffene, lebendige Stadt am Bosporus, war seit jeher ein bunter Schmelztiegel. Weiter östlich oder südlich in der Türkei ist man deutlich konservativer als in den türkischen Großstädten. Entsprechend gibt es in Istanbul auch kaum Schwierigkeiten, kritische Gesprächspartner zu finden, die nicht auf Linie der regierenden AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan sind.
Wie jene beiden Lehrerinnen mittleren Alters, Zeynep und Sidel, die im Sultan-Garten sitzen. Ihr Lehrergehalt reicht nicht zum Leben aus, sodass beide sich mithilfe zusätzlicher Jobs über Wasser halten. Die wirtschaftliche Situation hat sich in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert, die türkische Lira gilt als eine der Währungen mit der schnellsten Entwertung der Welt, die Arbeitslosigkeit liegt bei zehn Prozent, Tendenz steigend. Sidel trägt ein Kopftuch und kennt in ihrem religiösen Umfeld viele, die sich von Erdogans Politik abgewendet haben; beide Frauen erhoffen sich den Sieg von Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu, sind aber nicht so zuversichtlich. „Hier in Istanbul triffst du viele Menschen, die kritisch eingestellt sind“, sagt Zeynep. „Aber die Türkei ist ein großes Land, geh mal in die vielen ländlichen Gebiete oder in die Kleinstädte, wo Fernsehen mit von Erdogan bestimmten Nachrichten geschaut wird. Dort wirst du eine andere Stimmung vorfinden.“
Unzufrieden mit der Wirtschaft
Ceyda ist Mitte 30 und sitzt auf einer Bank im Park. Sie arbeitet bei einer Versicherungsgesellschaft. Das staatliche System der Krankenversicherung findet sie nicht fair, will das aber nicht weiter ausführen. Mit ihrer eigenen wirtschaftlichen Situation sei sie auch nicht zufrieden. Aber sie fühlt sich als Frau gleichberechtigt behandelt und behauptet, nichts von den Frauenprotesten vor zwei Jahren mitbekommen zu haben. 2021, als die Türkei aus dem internationalen Abkommen zum Schutz von Frauen vor Gewalt austrat, unterdrückten massive Polizeiaufgebote die Proteste dagegen im Land. Ceyda sagt, sie sei mit der gegenwärtigen Situation zufrieden. Sie macht aber einen nicht sehr entschlossenen Eindruck. Auffällig dabei: Ihr Sitznachbar, mit dem sie hier ist, antwortet oft für sie, obwohl er nicht einmal zu ihrer Familie gehört. Sie nickt dann nur zustimmend, fühlt sich dadurch nicht besonders gestört.
In der Türkei ist die Mentalität im Hier und Jetzt verankert und die Erwartungen an die Führungsspitze offenbar gering. Das schwere Erdbeben, das am 6. Februar Regionen in Syrien und der Türkei erschütterte und nach offiziellen Angaben mehr als 50.000 Tote forderte, gehört im bereits krisenerprobten Land der Vergangenheit an. Kurz vor den Wahlen wurden laut türkischer Regierung Gasvorkommen im Schwarzen Meer entdeckt – ein Geschenk für Erdogan, der den Bürgern einen Monat lang freies Gas zusicherte. Der starke Führer habe es auch geschafft, die Lebensmittelpreise um die Hälfte zu senken, heißt es seitens der Regierungspropaganda. Erdogan selbst tritt mit seiner hoffnungbringenden Rhetorik gern bei volksnahen Zusammenkünften und Einweihungen im ganzen Land auf.
Elif arbeitet in einem Tech-Startup und informiert sich privat viel über die Verbindung zwischen Politik und Business. Sie sitzt auf der Fähre, die von der europäischen zur asiatischen Seite wechselt, und genießt den schönen Blick auf die Stadt. Sie sagt, ihre Kolleginnen und Kollegen seien viel eher westlich orientiert, würden flache und demokratische Strukturen unterstützen und sähen nicht, wie eine vielversprechende Zukunft mit einem Autokraten wie Erdogan an der Spitze möglich sei. Gleichzeitig sei sie etwas skeptisch wegen Erdogans Hauptkonkurrenten Kemal Kılıçdaroğlu, weil er über 70 Jahre alt ist, führungsschwach und kein sehr guter Redner, sagt sie. „Mir wäre ja die TIP (Türkische Arbeiterpartei) lieber, sie setzen sich insbesondere für Umweltschutz und die Interessen einfacher Arbeiter ein. Aber natürlich ist Kılıçdaroğlu eine deutlich bessere Alternative zu diesem Autokraten.“
Elif verweist auf Investigativ-Recherchen der sozialistischen Zeitung „Sözcü“, die in der Vergangenheit illegale Verbindungen zwischen Erdogan und einigen Oligarchen entlarvt haben. Tatsächlich sind auch nach dem Erdbeben geheime Verbindungen zu fünf regierungsnahen Konzernen bekannt geworden, der sogenannten „Fünferbande“, die der Oppositionsführer auf die Anklagebank bringen will; fünf Konzerne, die von den staatlichen Bauaufträgen besonders profitieren, würden staatliche Ausschreibungen praktisch unter sich aufteilen. Türkische Medien berichten, der Staat habe ihnen 418 Milliarden US-Dollar an Steuern erlassen. Sie sollen das Katastrophengebiet rasch wiederaufbauen, jegliches Mitspracherecht der Gemeinden vor Ort ist durch einen präsidialen Erlass Erdogans praktisch untersagt.
Doch kritische Stimmen, die die türkische Oligarchie entlarven, verfangen nicht bei der Bevölkerung. Metin Tekin ist ein Straßenhändler und sitzt mit einem Rollwagen voller Gebrauchtgegenstände auf einem zentralen Platz, wo er immer wieder alte Bekannte trifft. Er spielt manchmal traditionelle Musik in den Dörfern. Was für ihn eine Rolle spielt, sind gut ausgebaute Straßen, die während Erdogans Regierung fertiggestellt wurden. Für die wirtschaftliche Lage sei seiner Meinung nach Russland verantwortlich, „bei bestimmten Entscheidungen haben selbst die stärksten Staatsmänner gebundene Hände“. Er ist zuversichtlich, dass Erdogan die Wahl gewinnen wird.
Umut ist ein Händler auf dem Grand Bazaar von Istanbul. Er profitiert von den steigenden Preisen. Er ist auf Erdogan stolz und ist zuversichtlich, dass dessen Sieg so gut wie sicher ist. „Westliche Mächte haben es auf unsere natürlichen Ressourcen abgesehen, deswegen ist es besonders wichtig, dass wir viele heimische Produkte und Industrie haben“, sagt er voller Stolz. Erdogan sei es auch zu verdanken, dass die Türken ihre eigenen Waffen produzieren. Seine Krankenhausbehandlungen neulich habe er auch kostenlos genossen. „Erdogan ist ein starker und souveräner Staatsmann, im Unterschied zu Kılıçdaroğlu, der sich bei den Terroristen aus der PKK Freunde gemacht hat und unsere Position nur destabilisieren wird“.
Reale Chancen für Opposition
Das Misstrauen gegenüber der kurdischen Untergrundorganisation PKK ist oft zu hören. Erdogan-Unterstützer jedoch beteuern immer wieder, dass sie keine Probleme mit den Kurden selbst hätten. Auch der kurdennahen Partei HDP, mit denen Kılıçdaroğlu gern zusammen aufgetreten ist, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen, ein vor allem vom Staatsapparat beliebtes Argument, um seine Gegner zu schwächen. 2017 ist Kılıçdaroğlu dafür bekannt geworden, als er öffentlichkeitswirksam über 400 Kilometer von Ankara nach Istanbul marschierte – die HDP war dabei. Noch vor den Wahlen will das Verfassungsgericht entscheiden, ob die Partei, der man Separatismus vorwirft, aus dem Verkehr gezogen wird. Um dem vorzubeugen, hat die HDP einfach eine neue Partei gegründet: Yesil Yol Partisi (Deutsch: „Grüner Weg“). Sie ist mittlerweile von der Wahlkommission zugelassen.
Auch wenn die staatlichen Medien den breiten Bevölkerungsschichten eine deutlich bessere Realität vorgaukeln und Erdogan allgegenwärtig erscheint, gibt es bei dieser Wahl reale Chancen für Kemal Kılıçdaroğlus Sieg. Nach neuesten Umfragen aus dem April würde sein Bündnis aus sechs Parteien mit zirka 47 bis 49 knapp vorne liegen, die Präferenzen für Erdogan schwanken stark je nach Meinungsinstitut. Noch nie seit Erdogans Amtsantritt war der Ausgang der Wahl in der Türkei so ungewiss. Die vielen Fehlschläge und Skandale des Präsidenten, der einst die Verfassung änderte, um länger zu regieren, dürften selbst die abgelegensten Winkel Anatoliens erreicht haben. Aber selbst wenn der taktische Schritt des Zusammenschlusses der Oppositionellen am Ende zur „Entthronung“ des autokratisch regierenden Herrschers in Ankara führt, haben die sechs Parteien sehr gegensätzliche Interessen: Wie säkulare Nationalisten, strenge Muslime, ehemalige AKP-Abtrünnige, die für Demokratie einstehen, und Republikaner später gemeinsame Gesetze verabschieden sollen, bleibt abzuwarten. Erst einmal eint sie ein gemeinsamer Gegner: Erdogan.