In Zeiten, in denen sich Geschäftsmodelle rasend schnell ändern, heißt es für die großen Unternehmen, das Gras wachsen zu hören. Und das ist eben einfacher, wenn man seine Fühler ausstreckt. Sie schicken daher Mitarbeiter raus aus den eigenen Firmenwänden – und hinein in einen Coworking Space.
Vor rund zehn Jahren öffneten in den großen Städten die ersten Coworking Spaces – auch wenn es Vorläufer im Kleinen schon viel länger gab: Mehr oder weniger große Büroflächen, die sich Selbstständige, Start-ups oder Künstler teilten. So blieben die Mieten bezahlbar, und gleichzeitig war für den Austausch mit Gleichgesinnten gesorgt. Gerade dann, wenn Smartphone und Laptop ausreichen, um den eigenen Job zu erledigen, kann die reale Infrastruktur schließlich flexibel sein. Ob sie Betahaus heißen oder WeWork – die Anbieter gehen inzwischen in die Hunderte, Rankings listen die beliebtesten Orte auf. Sie reichen vom Raum mit Café-Atmosphäre und einem Dutzend Plätzen bis zu Büroetagen oder ganzen Häusern mit fest vermieteten Schreibtischen, Meeting-Räumen und Event-Agenda. Der Trend ist ungebrochen, die Zahl der Coworker wächst. Und längst sitzen nicht mehr nur Freiberufler und Gründer in den Coworking Spaces. Wer sich zum Beispiel in der Berliner Factory umsieht, einer umgebauten Brauerei am Mauerstreifen, findet dort nicht nur offene, gemeinsam genutzte Büro- und Café-Flächen, sondern auch eine Menge kleiner Büros hinter Glaswänden, auf deren Türen steht „Telekom", „Deutsche Bank" oder „Ergo". Was treibt solche Firmen an diesen Ort?
Netzwerk ohne Hierarchie
Der Austausch mit dem Netzwerk sei ein entscheidendes Argument, so Victor Thoma. Er ist einer von vier Projektleitern, die in der Berliner Factory das „Innovation Lab" des Versicherers Ergo verantworten. Seit Sommer 2017 ist die Ergo „Corporate Member" – das heißt hier: Man hat eigene Büroräume, bietet eine regelmäßige „Office Hour" an und kann eigene Veranstaltungen ausrichten. Für die interne Kommunikation steht das Online-Tool „Slack" zur Verfügung, über das man zu allen Mitgliedern Kontakt aufnehmen kann. Und Mitglieder sind hier im Übrigen alle, denn im Unterschied zu anderen Coworking-Spaces ist die Factory ein Club. Wie üblich im Coworking kennt die Kommunikation hier keine Hierarchien – anders als in vielen Unternehmen. Unkompliziert sei es daher, in Kontakt zu kommen. Ein klares Plus, findet Thoma: „So gelangen Talente zu uns, die sonst schwieriger zu finden wären. Von Start-ups, deren Kunde wir werden, bis zu Freelancern, die für uns arbeiten." Innovationen laufen manchmal einfach ins Büro in Form von Start-ups, die ihre Idee vorstellen. Zum Teil suchen die Mitarbeiter sie auch aktiv vor Ort.
Da arbeiten, wo neue Ideen entstehen
Die Forscher am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation verfolgen die Entwicklungen im Coworking schon seit Jahren. Das Engagement von Unternehmen in diesem Kontext haben sie 2017 in einer Online-Umfrage erfasst. Bei allen organisatorischen und räumlichen Unterschieden, die das Modell zeigt – der Daumen geht deutlich nach oben: Die meisten der knapp 100 Unternehmen, die Auskunft gegeben haben, sehen große Chancen, durch Corporate Coworking Wettbewerbsvorteile zu verwirklichen. Kurz und knapp: Coworking kann ein Innovationstreiber für Unternehmen sein. Als Teil eines Netzwerks bekommt man mit, was sich in Sachen Technologie und Wettbewerb so tut, welche Trends sich abzeichnen und auf welche Partner man setzen könnte. Und zwar frühzeitig genug, um teilzuhaben und das eigene Geschäftsmodell darauf abzuklopfen.
Kundensicht und unternehmerisches Denken
Im Innovation Lab der Ergo standen im ersten Factory-Jahr entsprechend unterschiedliche Projekte an: vom Kundenservice auf der Sprachplattform Alexa bis zur Versicherung für Start-ups. Manche Projekte sind bereits am Markt, wie etwa ein Chatbot, der mit den Kunden kommuniziert. Andere sind noch in der Entwicklung. Manchmal sitzt die neue Zielgruppe für ein Produkt gleich vor der Tür. Thoma arbeitet zum Beispiel an einer Versicherung für digitale Nomaden. Also Selbstständige, die – so weit das Klischee – mit dem Laptop am Strand sitzen, jedenfalls die meiste Zeit reisen, während sie arbeiten. „Die versicherungsregulatorischen Hürden sind da immens, angefangen damit, dass die Zielgruppe keinen festen Wohn- und Arbeitsort hat", hält Thoma fest. Aber nach vielen Testrunden sei das Produkt in diesem Jahr hoffentlich marktreif.
Testrunden? Ja, die Arbeitsweise sei zwar je nach Projekt unterschiedlich, aber immer explorativ: „Wir probieren Sachen aus, wollen schnell etwas Anfassbares schaffen, dann mit Kunden erproben und so Learnings generieren." Dabei Unsicherheit zu akzeptieren, gehöre im Innovation Lab dazu: „Wenn etwas nicht läuft, machen wir das Projekt auch wieder zu." Ist es im Lab-Kontext einfacher, Risiken zu akzeptieren? Thoma erzählt, dass er selbst ein Unternehmen gegründet hatte, bevor er zur Ergo kam. Wie seine Projektleiter-Kollegen, hat auch er keinen Versicherungshintergrund. Dadurch könne das Innovation Lab eher die Kundensicht einbringen und unternehmerischer denken: „Wir starten mit einer Idee und wissen ungefähr, wo wir ansetzen können. Aber wir wissen zum Beispiel noch nicht, ob die Technologie schon zu 100 Prozent funktioniert oder nicht."
Schnittstelle zu einer anderen Welt
In einem Umfeld, in dem Ausprobieren, Testen, Zusammenarbeiten großgeschrieben werden, lässt sich vielleicht wirklich produktiver, kreativer arbeiten als in großen Unternehmen. Aber ist dieser Enthusiasmus aus dem Coworking-Leben übertragbar? Schließlich sitzen die allermeisten Mitarbeiter nicht in Berlin. Interne Projektpartner arbeiteten regelmäßig eine Zeit lang vor Ort, erklärt Thoma: „Auf die Kollegen aus anderen Abteilungen hat das einen positiven Effekt, für viele ist das erst mal eine völlig andere Welt – mit toller Atmosphäre." Ganz ohne Anpassungsschwierigkeiten? Nein, aber um den Übergang zwischen diesen Welten abzufedern, sei das Innovation Lab schließlich auch da. „Wir sind eine Schnittstelle, wir haben Verständnis für die bestehenden Strukturen. Aber eben auch den Ehrgeiz, vielleicht jemanden ins Boot zu holen, der einen kleinen Teil davon besser machen kann."
Für die Ergo scheint das Engagement aufzugehen: „Corporate Coworking hilft uns, innovativer zu sein. Und es hilft auch dem ganz klassischen Geschäft: Wenn ein Start-up sagt, wir brauchen eine Versicherung für uns selbst – dann können wir die natürlich auch liefern", schließt Thoma. Während es für die einen gut funktioniert, sich in ein bestehendes Coworking einzugliedern, setzen andere auf eigene Räumlichkeiten: Der mittelständische Heiztechnik-Hersteller Viessmann etwa baut in Berlin-Prenzlauer Berg seine eigene Coworking-Heimat mit dem Fokus auf Technologie-Themen. Und das sind nur zwei von insgesamt neun Modellen der Zusammenarbeit, die die Autoren der Fraunhofer-Studie unterscheiden. Soviel ist sicher: Corporate Coworking ist ein Trend mit vielen Gesichtern.