Die skurrilen Charaktere aus dem Kosmos des Prime Time Theaters sind weit über Berlin hinaus bekannt. Zwischenzeitlich sah es so aus, als müsste das kleine Theater schließen – doch dank eines neuen Besitzers kann die Sitcom „Gutes Wedding, schlechtes Wedding" weiter gespielt werden.
Sie sind wieder da. Nach fast fünf Monaten hat das Prime Time Theater wieder geöffnet. Frisch renoviert, neu ausgestattet und mit einer Essbar im Foyer, die schon um 16 Uhr öffnet. Und Platzkarten für die 220 Stühle gibt es jetzt auch. Früher musste man frühzeitig da sein, um noch einen guten Platz zu ergattern. Jetzt kann man entspannt vor der Vorstellung noch kurz an die Bar gehen. Das Kieztheater zwischen den U-Bahnhöfen Wedding und Leopoldplatz, das ursprünglich mit zwei Schauspielern in einem kleinen Saal mit 25 Plätzen anfing, hat sich zu einem professionellen Theater entwickelt. Dabei schien es im Juni wegen Insolvenz am Ende zu sein.
Wie kam es zu diesem Wunder? Anfang des Jahres feierte das Kieztheater noch seinen 15. Geburtstag – nach 121 Folgen der Sitcom „Gutes Wedding, schlechtes Wedding". Die Serie ist seit Jahren Kult. 2003 hatten Oliver Tautorat und Constanze Behrends, beides Berufsanfänger, ihre Wedding-Sitcom als Parodie auf einschlägige TV-Serien aus der Taufe gehoben. Tautorat und Regisseur Philipp Lang (Constanze Behrends ist inzwischen ausgeschieden) erfanden mit der Zeit um die 200 Figuren, die Charakteren nachempfunden sind, wie man sie zwischen Wedding und Mitte täglich antreffen kann. Deutschtürken, Griechen, echte Berliner, Friedrichsheinis, „Prenzlwichser", sogar Uckermärker und – ganz aktuell – Brexit-Engländer. Jede Folge läuft etwa einen Monat lang, dann schließt sich die nächste an. Jahrelang zog die Theatertruppe alles durch den Kakao, was über den Zeitgeist hereinschwappte: den BER natürlich, die Tabledance-Bar um die Ecke, das Datingportal Tinder, den Biomarkt, die ständig wachsende Veganergemeinde, die Männerstillgruppe, das Dschungelcamp, zuletzt auch die Klima-Aktivisten. Und 2016/17 brachte der RBB vier Folgen der Serie ins Fernsehen.
Der Theateralltag schien rundzulaufen, da schlug die Nachricht von der Insolvenz des Theaters ein wie eine Bombe. Das Ensemble ließ sich nichts anmerken, spielte einfach mit Folge 123 „Der Club der toten Döner" weiter und forderte sogar die Zuschauer auf, ihre Ideen für eine Jubiläumsfolge einzureichen. 15 Sketche schafften es auf die Bühne von 51 Einsendungen. Auch das war ein Erfolg.
Dennoch war nicht zu leugnen: Dem Prime Time Theater ging die Luft aus. „Wir hatten im heißen Sommer 2018 ein schlechtes Jahr mit nur 60 Prozent Auslastung bei den Zuschauerzahlen. Dazu kam eine Rückforderung des Senats von Geldern, die wir unbeabsichtigt falsch abgerechnet hatten," erklärt Theaterleiter Tautorat die daraus resultierende finanzielle Schieflage. Ganz klar, der Schauspieler war und ist vor allem Künstler, kreativer Kopf, Ideengeber –aber kein Zahlenmensch.
Umso glücklicher die Wendung, dass er einen Geldgeber fand. Verleger Tomislav Bucec hat kurzerhand das ganze Theater gekauft, mit einem hohen sechsstelligen Betrag. Mehr will er nicht verraten. Bucec ist der Gründer des Druckhauses Laserline, er gibt die Reinickendorfer Allgemeine Zeitung (Raz), ein 14-tägiges Wochenblatt heraus. „Ich unterstütze das Theater seit über zehn Jahren, alle Drucksachen für das Theater gingen über Laserline", sagt er. Laserline hat er inzwischen an die europaweit führende Cewe-Gruppe verkauft, vielleicht konnte er deswegen die Mittel flüssig machen, um sich seinen Wunsch zu erfüllen, ein eigenes Theater zu besitzen. Oliver Tautorat ist jetzt angestellter künstlerischer Leiter, eine Position, die ihm offenbar entgegenkommt.
Resolute Türken-Mamas gegen „Kiezschlampen"
Aber was heißt schon „künstlerischer Leiter" im Prime Time Theater? Tautorat ist der Impresario, er mischt sich unter die lebhaft plaudernden Premierengäste, scheucht sie in den Bühnenraum, er heizt dem Publikum ein, das natürlich den Wahlspruch auswendig kennt, den „Gutes Wedding, schlechtes Wedding" erfunden hat: „Mitte is schitte, Prenzelberg is Petting, real sex is only Wedding …", und schwingt sich auf die Bühne, um die Hauptrolle an diesem Theaterabend zu übernehmen. Es ist keine Folge der Sitcom, die nächste läuft erst jetzt an. Am Abend der Wiedereröffnung heißt es „Allet nur Theater". Kalles (alias Tautorat) vor Kurzem abgebrannter Späti ist dank eines schwäbischen Investors gerettet, die große Eröffnungsfeier steht bevor. Da bemerkt er, dass der Architekt, der auch den BER geplant hat, die Fenster vergessen hat. 5.000 Euro müssen ganz schnell her, um das Malheur zu beheben. Kalle bittet seine Freunde, die Prenzlberger Öko-Mutter Lore, den Brexit-Flüchtling James, die Harry-Potter-Verehrerin Karina und die Cheerleaderin B aus Kleinmachnow um Hilfe. Sie wollen ein Theaterstück auf die Beine stellen. Und dazu erzählt jeder seine eigene Geschichte. Fünf unterschiedliche Biografien entwickeln sich, rührselig, komisch, naiv, die Kalle zu einem Stück verschmelzen will. Doch stimmt das alles, was sie erzählen? Natürlich kommt am Ende alles anders als geplant.
Zugegeben, der Humor, mit dem die Prime-Time-Truppe arbeitet, ist derb und mitunter ganz schön speziell. Scheu vor Klischees und grotesker Überzeichnung hat hier keiner. Immer geht es laut und krachend zu, Prolltypen gegen vergeistigte Künstler, resolute Türken-Mamas gegen „Kiezschlampen". Vielleicht hat sich das Theater im Wedding gerade deswegen längst sein Publikum erspielt, nicht nur in Berlin, sondern auch unter Touristen. Die Eintrittspreise von 21 bis 27 Euro halten sich im Rahmen, es gibt Ermäßigungen für Schüler, Studenten, Azubis und Sozialtickets. Jedenfalls stehen an diesem Abend die Zuschauer voll hinter ihrem Impresario, wenn er seine Parolen ruft und Antworten haben will – mitunter fühlt es sich an wie auf dem Fußballplatz.
Manchmal aber verlässt die Truppe das gewohnte Terrain, spielt neben ihrer erfolgreichen Sitcom auch klassische Stücke wie „Hamlet", natürlich auf Wedding’sch. Der Prinz kehrt nach dem Tod seines Vaters zurück in sein Königreich Wedding, das nun sein Onkel Claudius beherrscht, der neue Mann an der Seite seiner Mutter Gertrude. Hamlet – vom Geist des Vaters aufgefordert –
muss zur Rache schreiten. Aber das ist nicht die einzige Herausforderung. Die Gentrifizierer vom Prenzlauer Berg wollen sein Königreich übernehmen. Man darf gespannt sein, ob ihnen das gelingt, Premiere ist Ende Dezember.
Ist das Prime Time ein modernes Volkstheater? Schon, in dem Sinn, dass Stücke über schräge Typen aus allen Bevölkerungsschichten für ein möglichst breites Publikum gespielt werden. Zwar überwiegt oft der Klamauk, doch die Typen, die auf der Bühne stehen, sind echt. Und seit jeher gehört zum Volkstheater auch das Groteske. Doch bisweilen wünscht man sich Stücke, die den Blick aus dem Kiez hinaus wagen, sich beispielsweise satirisch an Mietendeckel oder dem Gezerre um die Klimapolitik abarbeiten. Dann erst könnte das derb-freche Kieztheater seine Möglichkeiten voll ausreizen.