So viel Pech ist tragisch: Zum dritten Mal hat sich Simon Ernst das Kreuzband im selben Knie gerissen. Die Füchse Berlin wollen den großen sportlichen Verlust teamintern auffangen.
Bevor sich Simon Ernst erneut operieren ließ, wollte er unbedingt noch einmal seine Teamkollegen sehen. Und so humpelte der Handball-Profi der Füchse Berlin am Morgen nach seiner tragischen Verletzung in die Kabine, wo er sich emotional in eine lange Pause verabschiedete. „Da wurde einem ganz schön schwummrig, als er in der Kabine das Wort ergriff", berichtete Nationaltorhüter Silvio Heinevetter. Ernsts Ansprache brachte die gestandenen Männer zum Weinen, er selbst zeigte Mut und Zuversicht. Was seltsam ist, denn eigentlich dürfte vor allem ihm selbst zum Heulen zumute gewesen sein. „Es flossen Tränen", berichtete Trainer Velimir Petkovic: „Es hat mich sehr bewegt, die Jungs weinen zu sehen." Die Teamkollegen fühlten mit Ernst, und doch konnten sie nur erahnen, wie es ist, wenn man sich zum dritten Mal seit März 2017 das Kreuzband reißt. Zum dritten Mal im selben Knie. Wenn man mit gerade einmal 25 Jahren schon vor dem Ende der Profikarriere steht.
„Er redet erst mal mit den Ärzten"
Im Spiel gegen den Bergischen HC Mitte Oktober knickte Ernst bei einem Zweikampf um. Er lief danach für den Angriff noch mal nach vorne – doch dann ging er mit gesenktem Kopf zur Auswechselbank. Trainer Petkovic erkannte sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. „Ich habe es an seinem Gesicht gesehen", sagte Petkovic. „Es tut mir leid für den jungen Mann. Das ist ein Riesenschock für uns, sehr tragisch." Als am nächsten Tag die Diagnose alle schlimmen Befürchtungen bewahrheitete, sprach Füchse-Geschäftsführer Bob Hanning vom „zweifelsohne traurigsten Tag als Geschäftsführer". Kapitän Hans Lindberg berichtete, dass in den ersten Tagen nach der schlimmen Verletzung die Stimmung bei den Füchsen „im Keller" gewesen sei. „Die Ergebnisse werden zur Nebensache, wenn so etwas passiert", sagte der Däne. Nationalspieler Fabian Wiede wünscht sich nur eines: Die Rückkehr des so talentierten, aber vom Pech verfolgten Rückraumspielers. „Wir hoffen einfach nur, dass er sich noch mal zurückkämpfen kann und zu uns auf den Platz kommt", sagte Wiede. Helfen könne man ihm dabei als Teamkollege kaum, meinte Heinevetter: „Als Mitspieler kann man ihn nur als Mensch in unserem Kreis behalten und immer für ihn da sein. Er muss erst mal weg hier, den Kopf frei bekommen. Überlegen, ob es Sinn macht, noch mal anzugreifen." In diesem Prozess befindet sich Ernst gerade. „Er muss das auch erst alles verarbeiten, was da auf ihn zukommt", sagte Geschäftsführer Hanning, der überhaupt keinen Druck auf den Spieler ausüben will: „Wir haben uns entschieden: Wir lassen ihn erst mal in Ruhe, er redet erst mal mit den Ärzten." Am Ende des Jahres, vielleicht auch erst Anfang 2020, will Ernst verkünden, wie es mit ihm weitergeht. Quält er sich ein drittes Mal durch die anstrengende Reha? Akzeptiert er, dass sein Körper vielleicht nicht für die Belastungen des Profisports geschaffen ist? Zieht er sich komplett aus dem Profisport zurück? Bekommt der für seine Handball-Intelligenz geschätzte Ernst bei den Füchsen eine Aufgabe im Management oder Trainerteam? All diese Fragen müssen beantwortet werden, aber eben noch nicht jetzt. „Das sind weitreichende Entscheidungen", sagte Hanning. „Wir haben verschiedene Konstellationen geprüft." Und alle, das betont Hanning, seien voll und ganz im Sinne des Sportlers: „Es geht einzig und allein nur um ihn und nicht um den Verein oder irgendetwas anderes."
Für Ernst persönlich ist die schwere Verletzung eine Tragödie, für den Verein eine personelle Schwächung. Sowohl auf dem Parkett als auch in der Kabine wird der Musterprofi fehlen. „Ihn als Sportler und als Mensch zu ersetzen", sagte Hanning, „ist unmöglich". Auch Trainer Petkovic bedauerte den Ausfall zutiefst: „Simon ist so ein Vorbild. Ich habe selten einen so fleißigen Spieler gesehen. Er arbeitete mehr als andere, wird aber nun zum dritten Mal bestraft." Auch Bundestrainer Christian Prokop übermittelte sein Bedauern. „Das ist sehr bitter, wo er sich wieder so herangekämpft hat", sagte Prokop, der den Europameister von 2016 fest für den EM-Kader fürs nächste Jahr vorgesehen hatte. Ernst hatte erst zu Saisonbeginn sein Comeback gefeiert, nur um sich wenige Wochen später wieder das Kreuzband zu reißen.
Der gesunde Ernst, der im Sommer nach vier Jahren beim VfL Gummersbach in Berlin einen Neuanfang wagte, gefiel in der Rückraumachse mit den Nationalspielern Wiede und Paul Drux als Ideengeber und Antreiber. „Wir haben in den letzten Monaten gesehen, wie wichtig er für uns ist", sagte Petkovic. Der sportliche Verlust soll nun teamintern aufgefangen werden, Transfers schloss Hanning vorerst aus: „Solange wir unseren eigenen Ersatz nicht ausschöpfen, ist eine Neuverpflichtung gar kein Thema." Auch Wiede sieht keinen Bedarf für einen neuen Spieler, der das Teamgefüge durcheinanderbringen könnte. „Wenn man unsere Bank sieht, haben wir genug Spieler", sagte Wiede. „Wir haben einen Michael Müller, der nicht spielt, einen Stipe Mandalinic, der nicht spielt, einen Freddy Simak, der nur einen Angriff spielt. Wenn die Spielzeit bekommen und sich das Vertrauen des Trainers erarbeiten, dann haben wir Spieler." Wer mochte, konnte hier eine Kritik an Coach Petkovic herauslesen.
„Jetzt bin ich fit und sitze auf der Bank"
Vor allem auf Mandalinic ruhen nun die Hoffnungen. Der 27 Jahre alte Kroate war vor zwei Jahren mit reichlich Vorschusslorbeeren an die Spree gewechselt, doch auch ihn stoppte zwischenzeitlich ein Kreuzbandriss. Seit seiner Rückkehr im März kämpft er darum, bei Petkovic mehr Spielanteile zu bekommen. „In Zagreb habe ich immer 60 Minuten gespielt. Dann bin ich hierhergekommen, habe mich verletzt. Das war ärgerlich", sagte Mandalinic. „Aber jetzt bin ich fit und sitze auf der Bank." Auch Müller und Simak müssen trotz der Ernst-Verletzung größtenteils auf der Bank Platz nehmen, die Verantwortung lastet fast ausschließlich auf den Schultern von Wiede und Drux. „Das ist für jeden Spieler schwer, die sind auch nicht happy. Jeder muss für seine Position kämpfen", sagt Mandalinic.
Einen ganz anderen Kampf bestreitet derzeit Ernst. Und auch wenn die Mitspieler nur wenig zur Genesung beitragen können, ein Zeichen wollten sie dennoch setzen: Vor dem Heimsieg gegen die Rhein-Neckar Löwen liefen sie beim Aufwärmen mit T-Shirts mit dem Konterfei von Ernst und der Aufschrift „#StayStrong" auf. „Ich hoffe, Simon hat es gesehen, dass wir auch für ihn gefightet haben und er wenigstens ein kleines Lächeln auf der Couch bekommen hat", sagte Drux hinterher.