In der kommenden Saison steht der jüngste Trainer in der Geschichte der Handball-Bundesliga in Berlin an der Seitenlinie: Jaron Siewert. Ein 25-Jähriger, der nicht in die Schublade „Laptop-Trainer" gesteckt werden will.
Jaron Siewert kennt diese Vergleiche, er wird sie bald noch öfter hören und kommentieren müssen. Er ist für seinen Beruf fast unverschämt jung, ihm wird ein großes Trainer-Talent nachgesagt, er ist sehr ehrgeizig und selbstbewusst – natürlich ist die Versuchung groß, ihn als „Julian Nagelsmann des deutschen Handballs" zu beschreiben. Siewert, der ab der kommenden Saison Trainer des Handball-Bundesligisten Füchse Berlin wird, hat sich bei den Vergleichen längst eine Strategie zurechtgelegt. Und die geht so: dem Gegenüber auf höfliche Art verstehen zu geben, dass er sich zwar geschmeichelt fühlt, aber lieber an den eigenen Taten gemessen werden will. „Julian Nagelsmann hat in Hoffenheim und Leipzig schon seine persönliche Handschrift bewiesen und begeistert", sagt Siewert. „Ich muss meinen eigenen Weg finden." Für einen Hype gebe es keinen Grund, so Siewert. Anders als Fußballcoach Nagelsmann sei er bei seiner Trainerausbildung „nicht Jahrgangsbester" gewesen.
Siewert ist mit 25 Jahren aber sogar sieben Jahre jünger als Nagelsmann, der nach seinen ersten Auftritten im Profigeschäft auch mit Vergleichen leben musste. Als „Baby-Mourinho" wurde Nagelsmann in Anlehnung an Startrainer José Mourinho von Boulevard-Medien bezeichnet. So nennt Nagelsmann heute aber keiner mehr, und auch Siewert will sich so schnell wie möglich eigene Meriten erwerben. Dass ihm das gelingt, davon ist Bob Hanning komplett überzeugt. Der Füchse-Geschäftsführer hat sich nicht trotz, sondern auch wegen des jungen Alters für den derzeitigen Zweitliga-Trainer von Tusem Essen entschieden. „Wir brauchen eine Neugestaltung, wir brauchen neue Ideen für unsere Sportart. Ich traue Jaron zu, diese Innovation darzustellen", sagt Hanning. Im Club wolle man „etwas Neues kreieren", „der nächsten Generation die Chance geben" und „nicht so weitermachen wie bisher". Siewert betont jedoch, dass er nicht nach Berlin zurückkehre, um hier das Rad neu zu erfinden. Er arbeite zwar „schon sehr modern", aber in die Schublade der „Laptop-Trainer" will er sich nicht stecken lassen. „Klar schöpfe auch ich gern alle modernen Hilfsmittel aus", sagt der gebürtige Berliner. „Aber man wird mich bei den Füchsen auch altmodisch noch mit Zettel, Taktikbrett und Trillerpfeife in der Halle stehen sehen."
„Wir brauchen neue Ideen für unsere Sportart"
Ein großes Plus für eine Verpflichtung war auch seine Vergangenheit im Club. Bei den Füchsen hatte er früher in der Jugend im Rückraum gespielt, in der Saison 2013/14 kam er sogar ein paar Mal in der Bundesliga zum Einsatz. Doch Siewert wurde im Alter von 18 Jahren die Fähigkeit für den ganz großen Durchbruch abgesprochen. Von wem? Ausgerechnet von Hanning, seinem künftigen Chef. Das sei damals „natürlich ein Schock" gewesen, gibt Siewert zu. Aber sauer ist er auf Hanning nicht – ganz im Gegenteil. Der Füchse-Geschäftsführer gab ihm damals den Rat mit auf den Weg, eine Trainerkarriere einzuschlagen. Er half seinem Schützling sogar bei den ersten Schritten. Und so kam es, dass Siewert mit gerade einmal 20 Jahren im Club als Nachwuchstrainer einstieg. In sämtlichen Jugendaltersklassen sammelte er Erfahrungen auf der Trainerbank, ehe er nach Essen wechselte und sich dort für höhere Aufgaben empfahl. Nationalspieler Fabian Wiede etwa spielte in Berlin noch unter dem Jugendtrainer Siewert, er schwärmt in höchsten Tönen vom neuen Chef an der Seitenlinie. „Er besitzt einen hohen Handball-IQ", sagte der Linkshänder. Dass er genauso alt wie Siewert ist, spiele „keine große Rolle", betont Wiede.
Wirklich nicht? Werden sich auch Haudegen wie Hans Lindberg (38) oder Marko Kopljar (33) vom deutlich jüngeren Coach Kritik gefallen lassen? Ja, glaubt Siewert. „Autorität als Trainer hat man erst einmal allein schon durch die Position", sagt er, und dann müsse man „mit Inhalten und Persönlichkeit überzeugen". Beides traue er sich absolut zu. Sollte er den Spielern Wege zum Erfolg aufzeigen, werde sein Alter „weniger eine Rolle als meine fachliche Kompetenz" spielen. Seinen Führungsstil beschreibt Siewert als einen Mix aus Autorität und Kooperation.
Den Schritt zurück in die Hauptstadt zu den ambitionierten Füchsen empfindet Siewert aufgrund seiner Vergangenheit als „logische Entwicklung". Mit Essen kämpft er zurzeit um den Aufstieg in die Bundesliga, ein Duell in der nächsten Saison zwischen seinem baldigen und seinem jetzigen Club wäre „eine coole Geschichte". Der Druck in Berlin wird aber deutlich größer sein – davon kann ihm der aktuelle Trainer Velimir Petković ein Lied singen. Trotz des großen Verletzungspechs wird dem 62-Jährigen mal mehr, mal weniger direkt unterstellt, zu wenig aus dem Potenzial des Kaders herauszuholen. „Wir sind aktuell nicht glücklich mit dem, was wir abrufen. Wir haben Spitze gekauft, aber wir sind keine Spitze", sagte Hanning gegen Ende vergangenen Jahres. Petkovic will sich nach vier Jahren zumindest anständig verabschieden – am besten mit der Champions-League-Qualifikation. „Ich möchte mit meinen Jungs einfach richtig gut spielen und so viele Punkte wie möglich holen", sagt er. Als Trainer habe er „die gleiche Einstellung wie immer", unabhängig von seiner bevorstehenden Ablösung. Bei Gestaltung des künftigen Kaders hat Petkovic aber längst kein Mitsprachrecht mehr – anders als sein Nachfolger.
„Wir haben Spitze gekauft, aber wir sind keine Spitze"
Erst nach Rücksprache mit Siewert wurden die Rückraumspieler Marian Michalczik (Minden), Lasse Andersson (Barcelona) und Linksaußen Milos Vujovic (Tatabanya/Ungarn) verpflichtet. Und auf ausdrückliche Empfehlung von Siewert wurde der Vertrag mit Routinier Kopljar um zwei Jahre bis 2022 verlängert. Bei der Kaderzusammenstellung arbeitet Siewert eng mit Hanning und auch mit Stefan Kretzschmar zusammen. Der frühere Handball-Star, der seit einigen Monaten als Sportvorstand bei den Füchsen angestellt ist, wird für den Jung-Trainer ein wichtiger Ansprechpartner, Moderator und Ratgeber sein. Für Hanning war es deshalb besonders wichtig, dass die Chemie zwischen Siewert und Kretzschmar passt. Sympathie scheint vorhanden, der Respekt voreinander ist ohnehin groß. Siewert sei ein „junger, hochmotivierter und innovativer Trainer", schwärmt Kretzschmar. Das dynamische Duo soll die Füchse mittelfristig zu einem ernsthaften Meisteranwärter formen. „Wir nehmen ja nicht ohne Grund personelle Veränderungen auf allen Ebenen vor", sagte Hanning. Im Club würden derzeit „20 Prozent zu den Spitzenmannschaften" fehlen.