Die Vereinigten Staaten stehen im Kampf mit sich selbst. Präsident Donald Trump und Ex-Vizepräsident Joe Biden verkörpern zwei Seiten der USA: den Verlust alter Größe und den Aufbruch in eine neue Zukunft. In welche, das entscheidet sich im November.
Am 3. November entscheidet sich wahrscheinlich noch nicht, wer US-amerikanischer Präsident wird. Die massive Zahl an Briefwahlunterlagen, die Pandemie und das teils komplizierte Wahlverfahren werden es erschweren, schon an diesem Tag einen Gewinner zu küren. Und dass es, wie schon im Jahr 2000, letztlich der Oberste Gerichtshof sein wird, der die Wahl entscheidet, scheint ohnehin immer wahrscheinlicher zu werden. Medien stilisieren die Wahl zur Schicksalswahl für die USA, die führende Weltmacht und damit auch zur Schicksalswahl für die gesamte Welt. Etwas zu viel Pathos. Pragmatisch gesehen handelt es sich vielmehr um eine Charakterwahl.
Mit Donald Trump spülten die Wähler aus der amerikanischen Arbeiterklasse, aber auch der weißen Mittelschicht die Personifizierung ihrer Wut auf das Washingtoner Polit-Establishment ins Weiße Haus. Der 74-Jährige verkörpert dabei nicht die Mehrheit der Amerikaner, sondern diejenigen, die in den vergangenen Jahrzehnten im Rennen um die Globalisierung verloren haben. Das US-Wahlsystem, das eben nicht die Mehrheit der Wähler repräsentiert, sondern das Gewicht der Bundesstaaten, erlaubte ihnen vier Jahre Trump. Vier Jahre Krise auf Krise auf Krise, so wie Donald Trump es am liebsten mag. Im permanenten Ausnahmezustand, zur Not im selbstgeschaffenen, ist er am besten: aggressiv, wütend, streng. Eine menschgewordene Abrissbirne. Die Gegenbewegung der Demokratischen Partei ließ nicht lange auf sich warten. 2018 eroberte sie, mit einer Vielzahl neuer und vor allem weiblicher Kandidaten, das Repräsentantenhaus. Die Partei einigte sich auf einen 76-Jährigen als gemeinsamen Nenner: Joe Biden.
Barack Obamas Ex-Vizepräsident gilt nicht als brillianter Redner. Er ging in die Politik, obwohl er stottert, verlor Frau und Tochter bei einem Autounfall, seinen Sohn Beau an einen Hirntumor und einen weiteren, Hunter, fast an die Drogen. Persönliche Krisen prägen ihn. Er hat politische Fehler gemacht und sie zugegeben. Biden ist ein Anti-Trump: fürsorglich, menschlich nahbar, gleichzeitig mit 47 Berufsjahren einer der langjährigen Politprofis in Washington, kompromisssuchend auch mit moderaten Republikanern, international ein Multilateralist. Establishment par excellence.
Damit verkörpern Donald Trump wie auch Joe Biden eine USA auf der Suche nach Antworten. Fragen stellen sich viele: Wohin steuert die US-Außenpolitik? Konkurrent China steht an der Schwelle zur Supermacht, Russland arbeitet beharrlich daran, eine zu bleiben. Wohin steuert die amerikanische Wirtschaft? Die überalterte US-Industrie ist ein Schatten ihrer selbst, während Tech-Giganten das Internet und die Kommunikation beherrschen. Wohin steuert der Arbeitsmarkt? Apple, Amazon und Co. versprechen traumhafte Arbeitsbedingungen – aber nur für gut ausgebildete Fachkräfte –, während im sogenannten Rust Belt und im Mittleren Westen die USA wirtschaftlich hinterherhinken. Wohin steuert der Umweltschutz? Ohne Auflagen, ohne Pariser Klimaabkommen könnte die veraltete Industrie einfach so weitermachen wie bisher – kein Druck, innovativ werden zu müssen. Wohin steuert der Sozialstaat? Der Kampf um eine allgemeine Krankenversicherung ist viele Jahrzehnte alt, doch noch immer ist die USA das einzige westliche Industrieland ohne – inmitten einer weltweiten Pandemie. Wohin steuert die Bildung? Private, sogenannte Charter Schools buhlen zusammen mit staatlichen Schulen um staatliche Fördergelder, an Universitäten wird der Kampf gegen Rassismus und für oder gegen politische Korrektheit offen ausgetragen. Wohin steuert die Politik? Immer extremere Politströmungen innerhalb der beiden großen Parteien drohen eine Kompromissfindung in Zukunft nahezu unmöglich zu machen. Und wohin steuert die US-Gesellschaft? Sie war, bei allen Unterschieden, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Art Rollenmodell für westliche Demokratien. Gut gealtert ist sie jedoch nicht. Zeit, sie umzukrempeln. Zwei schon recht betagte Herren bestimmen nun, in welche Richtung.