Nach einem enttäuschenden Saisonstart fangen sich die Füchse Berlin so langsam. Die Spieler setzen das Konzept des neuen Trainers immer besser um, die Ergebnisse stimmen jetzt wieder.
Für die Füchse Berlin ist die Saison bisher eine reine Achterbahnfahrt. Es gab schmerzvolle Niederlagen in der Liga, einen Traumstart in der European League, eine freiwillige Quarantäne wegen mehrerer Corona-Fälle und als ständigen Begleiter die Existenzangst. Interessanter Stoff für eine Dokumentation – und Sky hatte den richtigen Riecher. Der Pay-TV-Sender, der die Rechte an der Handball-Bundesliga besitzt, lag mit der Doku „Unser Revier" über die Füchse goldrichtig. In der vierteiligen Reihe finden die Fans spannende Einblicke, die ihnen für gewöhnlich verwehrt bleiben. Zum Beispiel ist eine Kamera dabei, als Trainer Jaron Siewert nach der bitteren 22:32-Heimpleite im Ostderby gegen den SC Magdeburg die Spieler in den Senkel stellt („Dass wir uns emotionslos mit zehn Toren abschlachten lassen, von Magdeburg, hier zu Hause – das ist zu viel!"). Linksaußen Milos Vujovic erzählt von seinem schrecklichen Radunfall, den er um ein Haar mit dem Leben bezahlt hätte („Ich habe geschrien, als wäre es mein letzter Atemzug"). Und die Zuschauer sind Zeuge, wie Geschäftsführer Bob Hanning vor versammelter Mannschaft offen die finanzielle Notlage beschreibt („Wir müssen über zwei Millionen Euro noch decken"). Die Doku verschweigt auch die Schattenseiten nicht, das macht sie neben den vielen Kameras im innersten Zirkel des Teams und den auch sehr privaten Aussagen der Protagonisten so realistisch. „Ohne Zuschauereinnahmen kämpft der Hauptstadtclub wirtschaftlich ums nackte Überleben", heißt es in der offiziellen Ankündigung der Doku. „Gleichzeitig fliegen die Träume hoch, trotz oder gerade wegen der Krise."
Die Spielzeit 2020/21 ist die sicherlich herausfordernste Saison in der Geschichte der Füchse Berlin, die nach dem Abwenden der drohenden Insolvenz zu Zweitligazeiten eigentlich nur Erfolgsgeschichten geschrieben haben. Auch für diese Saison war der Club auf Erfolg programmiert und hatte dafür einen Neustart auf vielen Ebenen ausgerufen. Die wichtigste Position, die des Cheftrainers, wurde mit dem 26-jährigen Siewert besetzt. Der mit Abstand jüngste Bundesligacoach verfügt über ein immenses Fachwissen, Empathie im Umgang mit Spielern und „Stallgeruch". Bevor Siewert den Traditionsclub Tusem Essen zurück in die Bundesliga führte, hatte er bei den Füchsen die A- und B-Jugend zu Meistertiteln gecoacht.
„Wir müssen über zwei Millionen Euro noch decken"
Siewert und die Spieler hatten aufgrund der Corona-Krise die längste Vorbereitungsphase der Clubgeschichte zur Verfügung – und trotzdem waren Anpassungsprobleme unverkennbar. Der Saisonstart verlief enttäuschend, nicht nur die derbe Pleite gegen Magdeburg drückte auf die Stimmung. Doch mittlerweile hat sich das Team gefangen und setzt die Forderungen des neuen Trainers, der ein deutlich schnelleres Umschaltspiel und mehr Aggressivität verlangt als seine Vorgänger, besser um. Mit dem wichtigen 32:30 am vergangenen Samstag zu Hause gegen die MT Melsungen bauten die Füchse nicht nur ihre Erfolgsserie auf fünf Pflichtspielsiege in Folge aus, sondern hielten auch einen direkten Konkurrenten im Kampf um das internationale Geschäft auf Distanz. Bester Werfer der Berliner war einmal mehr Routinier Hans Lindberg mit elf Toren. Rückraumspieler Marko Kopljar durfte nach seiner Corona-Zwangspause wieder mitwirken, während die ebenfalls vom Virus genesenen Marian Michalcik und Milos Vujovic mit Trainingsrückstand noch nicht zur Verfügung standen. Doch auch ohne das Duo konnte Berlin überzeugen. „Wir sind auf dem absolut richtigen Weg", fasste Coach Siewert zufrieden zusammen. Gegen Melsungen waren es vor allem die Dänen Lindberg, Jacob Holm und Lasse Andersson, die den Unterschied ausmachten. „Die Dänen hatten heute einen Sahnetag", lobte der Trainer das Trio, das in dieser Form auch bei noch besseren Teams auftrumpfen könnte: „Ich bin sehr glücklich, dass sie bei uns in der Mannschaft sind."
Vor dem Anpfiff wurde Melsungens Torhüter Silvio Heinevetter, der Berlin im Sommer nach elf Jahren verlassen hatte, offiziell verabschiedet. Auf der Video-Leinwand der Schmeling-Halle, die der Keeper mit seinen Paraden und seiner Emotionalität oft in ein Tollhaus verwandelt hatte, wurde ein Film über seine Zeit beim Hauptstadtclub gezeigt. Seine Rückkehr in den Fuchsbau sei „ein komisches Gefühl" gewesen, gab Heinevetter zu. Dass er sich wegen der Corona-Pandemie noch immer nicht von den Berliner Fans verabschieden konnte, schmerzt den Nationalspieler. „Natürlich hätte ich am Sonnabend gern vor ein paar Leuten gespielt", sagte er der „B.Z.", „aber wir können die Situation leider nicht ändern." Vor dem Spiel in seiner alten Heimat hatte Heinevetter verraten, dass er sich auf dem Parkett „emotional von dem Ganzen etwas lösen" und die Füchse als „ganz normalen Gegner behandeln" wolle. Und das tat er dann auch: In der Anfangsphase legte sich der Ex-Fuchs mit Lindberg an, weil der bei einem Wurf den Kopf des Torhüters nur knapp verfehlt hatte. Und auch sonst war Heinevetter mit viel Leidenschaft bei der Sache, und vor allem in der ersten Halbzeit brachte er seine früheren Teamkollegen öfter zur Verzweiflung. Auf das Kräftemessen hatte sich Heinevetter gefreut, „auf den ungewohnten Gang in die Gästekabine" dagegen nicht. Aufgrund der späten Anstoßzeit fiel auch ein Ausflug in die Stadt flach, Heinevetter reiste mit der Mannschaft sofort ab. Nicht aber, ohne seinem Ex-Club alles Gute für die Saison zu wünschen. Die Berliner hätten „extrem viel Qualität", allein im Rückraum würden sich „locker sieben Top-Leute" tummeln.
„Manche Sachen brauchen Zeit, das ist die Realität"
Doch die PS brachte die Mannschaft zu Saisonbeginn nicht auf die Straße. Der von Siewert mit der Unterstützung von Geschäftsführer Hanning und Sportvorstand Stefan Kretzschmar eingeleitete Umbruch dauert noch immer an. „Dass man in einer ehrlichen Reflektion als Trainer feststellen muss, dass manche Sachen Zeit brauchen, das ist die Realität", sagte Siewert. „Trotzdem ist man in jeder Woche wieder genauso ungeduldig, genauso eine Triebfeder, um zu sagen: Ey, jetzt müssen wir aber die Schritte machen." In den ersten Spielen hatte Siewert vor allem mit der Chancenauswertung gehadert. „Damit können wir nicht zufrieden sein", sagte er. Sein Team habe oftmals „nicht die Effektivität auf die Platte gebracht", die er sich gewünscht hatte.
Zum Glück war auf der Torwart-Position Verlass. Vergangene Woche Dienstag in der European League gegen Dinamo Bukarest (33:29) glänzte Fredrik Genz als Vertreter des Stammkeepers Dejan Milosavljev. Der neue Torwarttrainer Dejan Peric trägt auch seinen Anteil daran. „Die Betreuung ist ein großer Mehrwert. Für die Torhüter und auch für das ganze Team", sagte Siewert. Der Trainer hofft, dass die Füchse nun emotional und tabellarisch „oben" bleiben und die Achterbahnfahrt ein Ende hat. Auch wenn das für eine Doku weniger interessant ist.