Rückenschwimmerin Lisa Graf hat ihre Karriere auch aufgrund von Long Covid beendet. Die Wehmut hält sich bei der Berlinerin in Grenzen – auch, weil ihr deutscher Rekord wohl noch lange bestehen bleibt.
Die unangenehmen Nächte werden weniger, aber wenn Lisa Graf der Schmerz packt, dann ist die Nachtruhe für sie vorbei. „Ich habe dann so starke Gliederschmerzen, dass ich nicht schlafen kann. Die Beine ziehen extrem, und ich werde stundenlang wachgehalten", sagt die Schwimmerin. Die deutsche Rekordhalterin leidet unter Long Covid, den Langzeitfolgen einer Corona-Erkrankung Mitte Januar. Auch deshalb beendete die Athletin der SG Neukölln nun ihre Karriere.
„Hallöchen ihr Lieben" – so fröhlich beginnt die eigentlich traurige Nachricht der Schwimmerin auf ihrem Instagram-Account. Sie werde sich „jetzt aus dem Wettkampfsport zurückziehen", damit sie sich auf ihre „hundertprozentige Genesung" und ihr Studium konzentrieren könne. Graf dankte ihren Vereinen, der Bundeswehr, der Sporthilfe, dem Olympiastützpunkt und dem Deutschen Schwimm-Verband (DSV). „Ohne Euch", schrieb die 28-Jährige, „könnte ich nicht auf all meine Erfolge, Erfahrungen und vor allem auch schöne Zeiten zurückblicken."
Olympia war noch ein letztes großes Ziel
Eigentlich sollten die Olympischen Spiele in Tokio den Schlusspunkt in der erfolgreichen Karriere der mehrmaligen Deutschen Meisterin setzen. Doch Corona hat ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Von der Virusinfektion hat sich die Rückenschwimmerin nicht mehr vollständig erholt, zumindest nicht so sehr, um im Wettkampfbecken an ihre Normalform heranzukommen. Für die Olympia-Qualifikation hätte sie auf ihrer Paradestrecke 200 m Rücken sogar zwei Sekunden über ihrem deutschen Rekord (2:07,63 Minuten) bleiben können. Doch auch das war angesichts der Umstände eine für sie nicht zu meisternde Hürde.
Dabei hatte Graf alles versucht. Die in Leipzig auf Lehramt studierende Schwimmerin wechselte zurück zu ihrem alten Erfolgstrainer Lasse Frank. Gemeinsam mit dem Bundesstützpunkttrainer in Berlin sei es ihr auf einem „langen und steinigen Weg" gelungen, „mich so gut es geht zurückzukämpfen". Aber es reichte nicht. Bei der letzten Möglichkeit für ein Tokio-Ticket, dem Wettbewerb Mitte April in Berlin, blieb Graf über 100 Meter Rücken fast drei Sekunden über ihrer persönlichen Bestzeit. Das sind im Schwimmen Welten. Auf einen Start über 200 Meter hatte sie gar verzichtet, weil sie zuvor beim Meeting in Eindhoven satte acht Sekunden langsamer als bei ihrem Rekord geschwommen war. Schon da wusste Graf innerlich: Es ist Zeit zu gehen.
„Ich konnte mich schon ein bisschen drauf einstellen. Deswegen war es für mich für den Kopf ein bisschen leichter", sagt sie. Olympia hätte sie „gerne nochmal mitgenommen, aber es sollte nicht sein". Dass die Atmosphäre in Tokio aufgrund der Coronalage eine völlig andere sein wird als bei ihrer Olympia-Premiere 2016 in Rio den Janeiro, macht den Abschied für Graf deutlich leichter: „Dadurch, dass es Pandemie-Spiele werden und alles abgespeckt ist, ist die Enttäuschung nicht so groß." Durch die ganzen Einschränkungen, Hygieneauflagen und Verbote gehe „der olympische Geist irgendwie verloren", meint Graf: „Es sind keine Zuschauer da, man darf nicht so lange vor Ort sein, nicht mit anderen Sportlern in Kontakt kommen. Das alles mildert meine Wehmut."
Graf ist ein offener und kontaktfreudiger Mensch, mit ihrer sympathischen und positiven Art war sie im Nationalteam der Schwimmer sehr beliebt. Das zeigen auch die vielen aufbauenden Reaktionen, die Graf auf ihren Abschieds-Post erhielt. Aktive und ehemalige Schwimmer wie Leonie Kullmann („Jetzt schon vermisst"), Ramon Klenz („Der Schwimmsport verliert jemand ganz Besonderen") oder Yannick Lebherz („Großen Respekt, dass Du es trotz der Umstände versucht hast") wünschten ihr von Herzen alles Gute für die Zukunft.
„So viel positiven Zuspruch zu bekommen, gerade auch von ehemaligen Sportlern und Trainern, das tut so gut", gibt Graf zu: „Es tut gut, zu wissen, dass man so gut ankam." Und dass man so schnell auch sportlich nicht vergessen wird. Denn der Rekord über 200 Meter Rücken, „der bleibt noch ein paar Jahre bestehen, das weiß ich", sagt Graf, „und das stimmt mich auch sehr positiv."
Sowieso: Dieser Rekord, geschwommen am 18. Juni 2017 im schnellen Becken der Berliner Schwimmhalle an der Landsberger Allee, war das Highlight in Grafs Karriere. „Das war das krasseste Erlebnis", erinnert sie sich zurück. Mit dieser Zeit hätte sie bei Olympia 2016 nur ganz knapp eine Medaille verpasst, doch der Höhepunkt kam ein Jahr zu spät. In Rio enttäuschte Graf – wie nahezu das komplette DSV-Team – mit einem Halbfinal-Aus. Eine Einzelmedaille bei Europa- oder Weltmeisterschaften war ihr nicht gegönnt, bei der Heim-EM 2014 schrammte sie als Vierte knapp am Podest vorbei.
Für eine Medaille hätte es in Tokio auch ohne die Corona-Erkrankung nicht mehr gereicht, sehr wahrscheinlich auch nicht fürs Finale. Deswegen scheute sich Graf zunächst auch, Long Covid als einen Grund für ihren Rücktritt öffentlich anzugeben. Dabei könnte das Beispiel durchaus hilfreich sein, damit andere Leistungssportler die Erkrankung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn die Langzeitfolgen treffen auch austrainierte Menschen. Ringer-Weltmeister Frank Stäbler büßte zum Beispiel rund 20 Prozent der Leistungsfähigkeit seiner Lunge ein, Triathletin Katharina Blach klagte lange Zeit über ein fehlendes Gefühl in Händen und Füßen, und Eishockey-Profi Janik Möser sowie Para-Tischtennisspielerin Juliane Wolf wurden durch eine Herzmuskelentzündung gesundheitlich weit zurückgeworfen.
Corona gefährdet Olympia-Traum
Schwimmstar Florian Wellbrock agiert deshalb sowohl im Sport als auch im Privatleben äußerst vorsichtig. Der Doppel-Weltmeister weiß: Eine Corona-Erkrankung kurz vor Olympia könnte seinen Gold-Traum zunichte machen – und vielleicht noch schlimmeres. „Wenn die Lunge dadurch künftig nur ein Prozent weniger leistet, gefährdet das die Karriere", sagte Wellbrock. Die für die Sauerstoff-Aufnahme und den -transport wichtigen roten Blutkörperchen können durch Corona geschädigt werden und damit die Leistungsfähigkeit einschränken. Bei manchen für Wochen oder sogar monatelang.
„Das ist eine wellenförmige Müdigkeit und ein Gefühl von Atemnot bei hohen Belastungen", beschreibt es Hans-Georg Predel. Der Leiter des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin hat die Studie „Covid-19-Folgen bei Sportlern" ins Leben gerufen, die Langzeit-Auswirkungen bei Athleten erforscht.
Lisa Graf nimmt daran nicht teil, sie hat mit dem Kapitel Leistungssport abgeschlossen. Einen Plan B hatte sie schon länger verfolgt: Graf studiert Lehramt auf Sonderpädagogik mit Oberstufenfach Sport. Später möchte sie an einer Förderschule oder an einer „normalen" Schule gerne als Sonderpädagogin arbeiten. Und natürlich nachts nicht mehr vor Schmerzen wach liegen. „Es wird weniger, weil ich mein Training zurückgefahren habe", sagt Graf: „Ich glaube, dass der Körper sich dadurch ein bisschen schneller und besser regeneriert."