Den spektakulärsten Transfer im Sommer landeten nicht die Top-Clubs aus Kiel oder Flensburg, sondern die Füchse Berlin. Dänemarks Ausnahmetalent Mathias Gidsel wechselt allerdings erst kommendes Jahr an die Spree.
Bei diesen Bildern fuhr den Verantwortlichen der Füchse Berlin ein Schock in die Glieder. Fabian Wiede fasste sich bei einem unbedeutenden Vorbereitungsturnier in Potsdam mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Knöchel und musste dann von zwei Teamkollegen vom Feld getragen werden. Es wurde das Schlimmste befürchtet, doch das Ergebnis der Untersuchungen gab eine kleine Entwarnung: Teilruptur des Außenbandes im Sprunggelenk. „Fabi hatte Glück im Unglück", sagte Füchse-Geschäftsführer Bob Hanning, „dass die Verletzung keinesfalls so schwerwiegend ausfällt, wie wir es befürchtet hatten."
Bei einem langfristigen Ausfall des Nationalspielers hätte der Handball-Bundesligist ein Problem gehabt, obwohl der Club auf Wiedes Position im linken Rückraum in diesem Sommer den spektakulärsten Transfer der ganzen Liga getätigt hat: Mit Mathias Gidsel wechselt der MVP des olympischen Handball-Turniers nach Berlin – allerdings erst zur nächsten Saison. Für die am 9. September mit einem Heimspiel gegen die HSG Wetzlar begonnene Spielzeit 2021/22 war der dänische Nationalspieler nicht zu bekommen, er wollte unbedingt seinen Vertrag beim Heimatclub GOG Handbold erfüllen. Die Berliner schlugen trotzdem zu – denn die Chance auf so einen Weltstar bekommt ein Klub wie die Füchse nur ganz selten.
Seltene Chance erfolgreich genutzt
Bob Hanning, der 2005 noch zu Zweitligazeiten eingestiegen war, sprach daher auch von einem „der schönsten Tage als Geschäftsführer der Füchse". Sportdirektor Stefan Kretzschmar adelte den neuen Hoffnungsträger als „eines der größten Talente unserer Zeit". Wobei das Wort „Talent" vielleicht etwas irreführend ist, denn Gidsel ist trotz seiner 22 Jahre längst in der Weltspitze angekommen. 2020 wurde er mit Dänemark Weltmeister, bei Olympia holte er mit seinem Heimatland Silber und wurde zum wertvollsten Spieler gewählt. Die 46 Treffer und 34 Vorlagen von Tokio hatten den längst ausverhandelten Wechsel nach Berlin nochmal ein kleines bisschen ins Wanken gebracht. Plötzlich jagten nahezu alle europäischen Top-Klubs den Linkshänder.
„Dass er Most Valuable Player (MVP) geworden ist, machte die ganze Sache nicht einfacher für uns", berichtete Kretzschmar: „Das waren noch mal schwierige Tage für ihn, weil ihn alle haben wollten." Doch Gidsel stand zu seinem Wort, auch wenn er sofort bei etlichen Champions-League-Vereinen hätte unterschreiben können. Er habe sich „bewusst für die Füchse Berlin entschieden", sagte der Profi, „weil mich das Konzept begeistert hat, und es Spaß machen wird, sich mit dieser Mannschaft weiterzuentwickeln." Keine Frage: Mit dem Dänen will Berlin spätestens ab 2022/23 die beiden deutschen Spitzenteams aus Kiel und Flensburg angreifen und um den Meistertitel mitspielen. Dazu passt auch, dass in Max Darj ein zweiter Star für die übernächste Spielzeit bereits fest verpflichtet wurde. Darj ist Kapitän der schwedischen Nationalmannschaft, mit 29 Jahren im besten Handball-Alter und bringt laut Kretzschmar eine „enorme Qualität und Stabilität in der Abwehr" mit: „Als absoluter Arbeiter, der immer vorangeht, wird er auch unserer Teamchemie guttun."
Hartnäckigkeit zahlte sich aus
Doch die große Attraktion wird in einem Jahr Mathias Gidsel sein. „Er ist ein unglaublich cleverer Spieler, der wenige Fehler macht" beschrieb Kretzschmar seinen „Wunschspieler", hinter dem er schon sehr lange her ist. Diese Hartnäckigkeit und das frühe Vorpreschen zahlten sich am Ende aus, als die Liste der Interessenten immer länger und länger wurde. „Wir wollten ihn unbedingt, und das hat am Ende auch den Ausschlag gegeben", meinte Kretzschmar: „Wir haben uns frühzeitig um ihn bemüht, so hat er das Gefühl, dass wir ihn am meisten wollen."
Vor allem Kretzschmar selbst setzte sich vehement für diesen Transfer ein, er telefonierte oft mit Gidsel, machte ihm Berlin und den Club schmackhaft. Die Art und Weise, wie sich der frühere Weltklasse-Linksaußen in dieser Sache reingehängt hat, stimmte auch Hanning zufrieden. Dessen Entscheidung, den nicht gerade pflegeleichten Kretzschmar vor zwei Jahren mit ins Boot zu holen und ihn als Sportvorstand gleich mit einer Menge Macht auszustatten, entpuppt sich mehr und mehr als goldrichtig. „Stefan Kretzschmars Hartnäckigkeit bei der Umsetzung der Transfers Max Darj und Mathias Gidsel zeigen, wie wertvoll er für den Verein ist", lobte Hanning.
Kretzschmar ist beileibe kein „Frühstücks-Direktor", der mit seinem großen Namen „nur" ein paar Sponsoren heranschafft. Er ist federführend dafür verantwortlich, dass die ambitionierten Füchse endlich oben angreifen können. Dafür hatten Führungsspieler wie Wiede und Paul Drux ihre Verträge verlängert. „Als ich hier angetreten bin, habe ich den Jungs gesagt, dass ich ihnen – vor allem Fabi und Paul – eine Mannschaft hinstellen will, die um die Meisterschaft spielen kann", sagte Kretzschmar. Er wolle allen Spielern eine Perspektive aufzeigen, dass sie „nicht woandershin wechseln müssen, um Titel zu gewinnen."
Gidsel ist ein ganz wichtiges Puzzle-Stück für dieses Gesamtbild. Dass der 1,90 m große Athlet, der in seiner Heimat als Nachfolger von Superstar Mikkel Hansen gilt, gleich für drei Jahre in Berlin unterschrieb, ist ein fast noch größeres Kunststück von Kretzschmar als der Transfer an sich. Über die Planungssicherheit ist auch Trainer Jaron Siewert mehr als begeistert, auch er schwärmte über den „spektakulären Transfer", der ihn „sehr glücklich" mache. „Er passt perfekt in unsere Spielphilosophie und bringt alle Attribute mit, die uns als Füchse Berlin helfen, die Spitze weiter anzugreifen", meinte Siewert. Schnell, technisch sauber, abschlussstark – so sieht der Trainer seinen neuen Star, und so will er seine ganze Mannschaft in Zukunft sehen. Gidsel soll aber nicht nur auf dem Parkett, sondern auch in der Kabine ein Gewinn sein. „Er hat das Herz am richtigen Fleck und ist ein super Typ", verriet Kretzschmar. Solche sportlich wie charakterlich über jeden Zweifel erhabenen Profis kosten in der Regel eine Stange Geld, und auch Gidsel wird für einen ordentlichen Jahreslohn das Füchse-Trikot tragen. Doch der Club habe sich deswegen in der Coronalage finanziell nicht verhoben, versicherte Kretzschmar. Man habe den Spieler gefunden, „der uns einerseits besser macht und den wir uns andererseits leisten können."
Ein wenig verwundert es aber schon, dass ein dänischer Topspieler in Berlin landet. In der Regel sind die erfolgreicheren Bundesligaclubs aus dem Norden für sie anziehender. Auch Gidsel schwärmte einst für die SG Flensburg-Handewitt, zu der „zwei meiner besten Freunde gewechselt sind". Er meinte Lasse Möller und Emil Jakobsen. Trotzdem entschied sich Gidsel für die Füchse, die als Vorjahresvierter von der Spitze noch etwas entfernt sind. Doch das soll sich spätestens in einem Jahr ändern. „Er wird uns eine Sicherheit geben", sagte Kretzschmar über Gidsel, „die uns hilft."
Auch Fabian Wiede, selbst wenn der Nationalspieler in Zukunft im rechten Rückraum etwas weniger Spielzeit erhält. „Jede Mannschaft, die eine Spitzenmannschaft sein möchte, braucht zwei gute Spieler auf der Position", betonte Kretzschmar. Das hätten die Erfolge der Vergangenheit durch Kiel und Flensburg gezeigt, „Und die Reise gehen wir mit." Dann ist der Schock bei Verletzungen wie die von Wiede auch deutlich kleiner.