Das Handball-Nationalteam hat ein neues Gesicht bekommen. Der Kader ist runderneuert, junge Spieler drängen sich auf und sind die Hoffnung auf eine erfolgreiche Zukunft.
Johannes Golla gilt als Musterprofi, der sich voll und ganz mit seinem Beruf als Handballspieler identifiziert. Doch zu Hause ist Schluss mit Handball, dafür sorgt die sieben Monate alte Tochter Juna Liv. „Sie lässt mir keine Ruhe, da hab’ ich keine Chance", sagt Golla, der sich auch im TV keine Spiele anschauen kann: „Sie mag nicht gern Handball gucken." Vielleicht wird sich das irgendwann ändern, wenn Juna Liv mitbekommt, was für eine wichtige Rolle ihr Vater im deutschen Handball eingenommen hat. Der Kreisläufer der SG Flensburg-Handewitt ist neuer Kapitän der Nationalmannschaft und damit gleichzeitig die Symbolfigur für eine neue Zeitrechnung. Im Idealfall für eine goldene Ära.
Dass es nach dem enttäuschenden Olympia-Auftritt mit dem Viertelfinal-Aus gegen Ägypten zu Veränderungen im Kader kommen wird, war klar. Doch dass der Umbruch im XXL-Format vonstattengeht, überrascht selbst Insider. Bekannte Gesichter, die das Nationalteam über viele Jahre geprägt und zu einigen großen Siegen geführt haben, sind nicht mehr dabei. Uwe Gensheimer zum Beispiel. Der langjährige Kapitän trat ebenso zurück wie die drei Routiniers Steffen Weinhold und Johannes Bitter. Abwehrchef Hendrik Pekeler nimmt sich freiwillig eine Auszeit vom DHB-Team.
Doch damit nicht genug: Bei der ersten Nominierung verzichtete Bundestrainer Alfred Gislason zudem auf die etablierten Stars Andreas Wolff, Silvio Heinevetter, Kai Häfner und Julius Kühn. Da die beiden verletzten Berliner Paul Drux und Fabien Wiede sowie der Kieler Patrick Wiencek (familiäre Gründe) ebenfalls fehlten, geriet der Länderspiel-Doppelpack Anfang November gegen Portugal zum Debütanten-Ball. Mit sieben Neulingen, darunter auch zwei Zweitligaspielern, begann der Neustart. Im Kader standen nur noch fünf Profis, die die Olympia-Pleite vor drei Monaten mitzuverantworten hatten. Mehr Umbruch geht nicht. „Wir meinen das zu hundert Prozent ernst", sagte DHB-Vorstand Axel Kromer.
Vorstand will einen Umbruch zu „hundert Prozent"
Bundestrainer Gislason steht hinter dem eingeschlagenen Kurs. „Dieser Kader spiegelt aktuelles Leistungsvermögen und Perspektive wider", sagte der Isländer, der zurzeit zu Hause in Wendgräben (Sachsen-Anhalt) über die Nominierung für die EM in Ungarn und der Slowakei (14. bis 30. Januar 2022) grübelt. In den Gruppenspielen gegen Österreich, Weißrussland und Polen wird sich der DHB-Kader sicher noch etwas verändern, gestandene Spieler wie Drux, Wiencek und Wiede dürften zurückkehren. Doch der Umbruch ist eingeleitet und soll auch nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die sportliche Formkurve zeigt seit Jahren nach unten, ein neuer Impuls musste her.
„Ich spüre schon eine gewisse Aufbruchsstimmung bei den Jungs", zeigte sich Gislason vom neuen Team auf Anhieb begeistert. Sein neuer Kapitän Golla, der schon seit zweieinhalb Jahren dabei ist, schien genau diese positive Stimmung zuletzt vermisst zu haben. „Wir müssen alle wieder die Lust auf die Nationalmannschaft entwickeln", forderte er, „dass alle gern hierherkommen." Die neuen Spieler würden „ein bisschen frischen Wind" reinbringen, eine neue Teamchemie entwickle sich. „Es war auch in der Vergangenheit immer so, dass Mannschaften, die sich neben dem Feld gut verstehen, wo alle für den Erfolg brennen, auch erfolgreich sind", meinte Golla.
Diese Leidenschaft war in den ersten Spielen auf jeden Fall zu sehen. Und auch sportlich überzeugte das neu formierte Team bei den Duellen gegen Portugal, von denen das erste gewonnen (30:28) und das zweite knapp verloren (30:32) wurde. Zeitweise standen auf dem Parkett nur Spieler mit fünf oder weniger Länderspielen. „Ich bin mit allen Neuen zufrieden, die werden sehr viel Druck machen", hatte Gislason anschließend gesagt. Er habe „viele Erkenntnisse" aus den Spielen und den Trainingseinheiten gewonnen, „das war eine extrem wichtige Woche".
Beim zweiten Duell in Düsseldorf wurden Gensheimer und Weinhold offiziell mit Blumen und Applaus verabschiedet. Die Zukunft spielte sich aber dann auf dem Feld ab. Die Außenspieler Lukas Zerbe (25) und Lukas Mertens (25) hinterließen über weite Strecken einen guten Eindruck, auch der mit 29 Jahren bereits ältere Neuling Djibril M’Bengue rechtfertigte seine Nachnominierung für den rechten Rückraum. „Er hat mich überrascht, muss ich ganz ehrlich sagen. Er hat richtig gut gespielt", lobte Gislason den Profi des FC Porto, der kurzfristig Wiede ersetzt hatte.
Viel Lob prasselte auch auf Debütant Joel Birlehm (24) ein, der Keeper von DHfK Leipzig zeigte im Wechselspiel mit dem Wetzlaer Till Klimpke (23) starke Leistungen im Tor. Dieses Duo dürfte jetzt die Nase vorn haben. Es sei schwierig, „sie bei der EM zu übergehen", gab Gislason zu. Das heißt im Umkehrschluss: Die Alphatiere Wolff und Heinevetter müssen sich in ihren Vereinen erst wieder anbieten, um eine Chance auf die Nationalmannschaft zu haben. „Die Tür ist keineswegs zu", betonte der Bundestrainer.
Torwart-Talent Birlehm im Fokus der Rhein-Neckar-Löwen
Doch einfach wird eine Rückkehr nicht. Vor allem Wolff, der große Rückhalt früherer Jahre, muss sich beim polnischen Erstligisten Vive Kielce mächtig strecken. „Andi macht derzeit eine schwierige sportliche Phase durch", so Gislason. Heinevetter erlebt auch im Club einen Generationswechsel: MT Melsungen wird den im Sommer auslaufenden Vertrag mit dem 37-Jährigen nicht verlängern und stattdessen den zehn Jahre jüngeren polnischen Nationaltorwart Adam Morawski verpflichten.
Der junge Birlehm verzichtet aber auf Kampfansagen in Richtung seiner erfahreneren Konkurrenten. Er will lieber Taten sprechen lassen. „Ich werde alles geben und dann sehen, ob es am Ende gereicht hat", sagte der Leipziger. Der rasante Aufstieg dürfte sich für ihn auch in anderer Hinsicht lohnen: Laut Medienberichten könnte der Torwart im Sommer 2023 zum Topclub Rhein-Neckar-Löwen wechseln, dann greift eine Ausstiegsklausel in seinem bis 2024 laufenden Vertrag. Der Wechsel dürfte Birlehm mit einer kräftigen Gehaltsaufstockung schmackhaft gemacht werden.
Spieler wie Birlehm, M’Bengue, Zerbe und Mertens haben durch den Umbruch beim DHB die Möglichkeit, sich ins Schaufenster zu stellen und für größere Clubs interessant zu machen. Entsprechend engagiert haben sie ihre erste Chance im DHB-Trikot wahrgenommen – sehr zur Freude der Verantwortlichen. „Es gibt sicher keinen Verlierer bei dieser Maßnahme", sagte Sportvorstand Kromer, der den „Jungen Wilden" mit viel Freude bei der Arbeit zugesehen hat: „Es ist das gewesen, was wir gehofft haben. Wir haben Begeisterung, Spielfreude und Mut gesehen. Das macht uns wiederum Mut für die Zukunft." Kromer weiß aber auch, dass es bei großen Turnieren nicht nur mit Jugend und Unbekümmertheit geht. „Der Faktor Erfahrung wird mit Blick auf die EM in Januar eine Rolle spielen", sagt er: „Ein EM-Versprechen gibt es für keinen Spieler."
Golla ist aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dabei, sollte ihn keine Verletzung stoppen. Die Wahl des Flensburgers zum neuen Anführer hat der Bundestrainer ganz bewusst getroffen. „Er ist von seinem Charakter und seiner Art der logische Kapitän", sagte der Isländer über den „Weltklassespieler" Golla. Auch der Fakt, dass er mit 24 Jahren noch recht jung ist, schreckte Gislason bei der Entscheidung nicht ab. „Das ist völlig nebensächlich bei dem, was er der Mannschaft geben kann", sagte der frühere Meistertrainer des THW Kiel: „Leistungsmäßig, aber auch als Persönlichkeit." Wichtig war ihm vor allem, dass sein verlängerter Arm auf dem Feld „eine Konstante in Abwehr und Angriff ist", dass er also „beides spielen kann".
Gensheimer verabschiedet sich ohne großen Titel
Und das kann Golla. Darüber hinaus bringt der 1,95 Meter große und 112 Kilo schwere Athlet eine körperliche Robustheit mit, die im harten Handballsport elementar wichtig ist. Co-Trainer Erik Wudtke hatte ihm vor der EM 2020 den Beinamen „Kampfsau" verliehen – und der passt gut zum Kraftpaket am Kreis. Abseits des Feldes wird aus dem Kämpfer aber ein Kommunikator, der „immer ein offenes Ohr" für seine Mitspieler habe, wie Kromer verriet: „Und er ist intelligent genug, um Gespräche zu initiieren und zu steuern." Ruhig, bescheiden, smart – so tritt Golla auch in Gesprächen mit den Medien auf. Auch in dieser Hinsicht hat es mit den alten Führungsspielern zuletzt das ein oder andere Problem gegeben.
Größe Töne spuckte Golla nach seiner Kapitäns-Premiere an seinem 24. Geburtstag daher auch nicht. „Ich bin dankbar für das Vertrauen. Dieses Amt übernehmen zu dürfen, ist eine riesige Ehre. Die DHB-Auswahl ist eine große Mannschaft", sagte er in einem Tonfall, der ihn immer noch als Fan outet. Er tritt weder großspurig noch breitbeinig auf, seine internen Ansprachen treffen dennoch meist den Punkt. „Ich will den Mitspielern ein gutes Gefühl geben und jeden mitnehmen", sagt er über seinen Führungsstil: „Es ist ganz wichtig, dass jeder seine Rolle findet und einbezogen wird."
Die Rolle seines Vorgängers ist nun die des Zuschauers. Gensheimer, der fast 16 Jahre die Nationalmannschaft prägte, der in 204 Länderspielen sagenhafte 921 Tore erzielte, der bei Olympia 2016 die Bronzemedaille gewann – er geht als Unvollendeter. Ohne großen internationalen Titel mit dem Nationalteam. Beim EM-Sieg 2016 hatte der Linksaußen verletzungsbedingt gefehlt. Auch deshalb scheiden sich die Geister bei der Frage, ob Gensheimer ein ganz Großer der DHB-Geschichte ist. Für Stefan Kretzschmar, der einst auf der gleichen Position spielte, steht fest: „Uwe ist und war rein handballerisch der beste und spektakulärste Linksaußen, den es jemals in Deutschland gab". Doch Gensheimer ist jetzt beim DHB Geschichte. Eine neue Zeitrechnung hat begonnen.