Die Leipziger Buchmesse findet vom 27. bis 30. April statt. Österreich ist Gastland. Mit dem Motto „meaoiswiamia“, sprich „mehr als wir“, tritt die vielfältige Buch- und Literaturszene auf. Dr. Daniela Strigl, österreichische Germanistin, Literaturwissenschaftlerin und Literaturkritikerin, ist bestens mit dieser vertraut.
Frau Dr. Strigl, für das literarische Frankreich steht Prousts Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, für Italien Dantes „Die göttliche Komödie“, und für Österreich? Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, Roths „Radetzkymarsch“ oder doch Heimito von Doderers „Die Strudlhofstiege“?
Alle drei sind repräsentativ. Aber, ich glaube: Es gibt nicht das eine große Werk. Die drei Titel sind nicht auf demselben Verbreitungsniveau. An Musil scheitern viele, wer den „Radetzkymarsch“ anfängt, der liest ihn auch zu Ende, behaupte ich – eine Familiengeschichte, die zugleich eine Zeitgeschichte ist.
Eine Welt geht unter.
Auch in „Der Mann ohne Eigenschaften“. Der Roman spielt 1913, aber der Erste Weltkrieg ist in dem Panorama vorweggenommen. Und „Die Strudlhofstiege“ bezieht sich auch darauf. Ich glaube, dass der Erste Weltkrieg für alle drei die entscheidende Zäsur ist, klarerweise, und ich glaube, dass dieses Ende der Donaumonarchie in der österreichischen Literatur weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht, siehe Ingeborg Bachmanns Gedicht: „Böhmen liegt am Meer“ (1964). Das sind die Phantomschmerzen eines großen Reichs, die man auch noch in der Literatur nach 1945 verspürt. Mein Fazit wäre, dass „Der Mann ohne Eigenschaften“ gewiss als das Referenzwerk der Moderne zu betrachten ist, die beiden anderen Romane aber mehr gelesen werden.
Können Sie ein charakteristisches Merkmal österreichischer Literatur benennen oder existiert so etwas gar nicht?
Ich glaube schon. Das hängt mit der Bedeutung der Gegenreformation, des Katholischen und des Barock zusammen, und damit, dass Österreich ab 1848 eine andere geschichtliche Entwicklung genommen hat. Wir haben die Wiener Moderne um 1900, dann gab es in Österreich eben nicht die Weimarer Republik, sondern die Erste Republik. Schaut man die Form der Literatur an, sieht man gewisse Traditionen. Man könnte eine Vorliebe für die Rhetorik behaupten. Nicht nur wird die Sprache selbst zum Thema in der österreichischen Literatur, die österreichische Literatur geht mit der Sprache auch verspielter um. Thomas Bernhard oder auch Jelinek wären Beispiele. Spricht man sich diese Texte vor, kommen sie erst richtig zur Geltung. Predigt- und Litanei-Elemente lassen sich in der Literatur, unabhängig von der ideologischen Ausrichtung, entdecken. Die Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit, die Geschichtslüge, das Schweigen oder auch den Proporz der Großen Koalition, diese koalitionäre Eintracht, das hat die österreichische Literatur lange beschäftigt. Bis heute merkt man, dass die nachkommenden Jungen sich an dieser Tradition schulen.
Der österreichische Humor ist ein besonderer.
Ja, das ist auch richtig. Der Humor spielt eine größere Rolle. Und auch die Ironie. Ich habe ja schon Jelinek und Bernhard genannt. Jelinek bezieht sich explizit auf den jüdischen Witz. Das ist auch etwas typisch Österreichisches, dass sich die Literatur und die Erzählinstanzen, nicht ganz ernst nehmen und auch den Leser gern aufs Glatteis führen. Der Humor ist sicher ein wichtiges Element – in Österreich neigt man sehr zum schwarzen Humor.
Österreichische Autoren stehen ihrem Land gern in Hassliebe gegenüber.
Ja, die Kritik am Staat, die gab es schon im Vormärz. Auf der anderen Seite gibt es in den letzten Jahrzehnten den Vorwurf des sogenannten Staatskünstlertums. Diejenigen, die den Staat kritisiert haben, beispielsweise Peter Turrini, wurden sehr wohl vom Staat gefördert, und haben das auch in Anspruch genommen. Eine Personalunion von Gottseibeiuns und Publikumsliebling. Früher oder später holt sich der Staat auch diejenigen, die ihre Hassliebe verkündet haben, an die Brust. Irgendwann landen dann alle sozusagen in der rot-weiß-roten Auslage. Peter Handke hat das Rebellentum vor sich hergetragen, auch Österreich-kritische Texte geschrieben. Nun ist man stolz, weil er den Literaturnobelpreis bekommen hat.
Ja, 2019. Elfriede Jelinek hat 2004 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Welcher österreichische Schriftsteller wäre ein nächster, dritter Kandidat?
Für mich gehört Marlene Streeruwitz in diese Liga. Sie ist jetzt auch schon 70, was für den Literaturnobelpreis kein Ausschließungsgrund ist. Von den Jungen, würde ich sagen, ist Clemens J. Setz der profilierteste und begabteste Autor. Vielleicht jetzt noch nicht, aber wenn er so weitermacht, schon.
Und Christoph Ransmayr?
Ich weiß, dass ihn viele auch dazusetzen würden. Ich bin nicht so eine begeisterte Ransmayr-Leserin. Mir hat seinerzeit „Die letzte Welt“ sehr gut gefallen. Mit seinen letzten Büchern bin ich nicht so glücklich. Mir ist das zu schön und zu wohlklingend. Bei mir steht er unter Kitschverdacht.
Der „Deutsche Buchpreis“, der den besten deutschsprachigen Roman des Jahres auszeichnet, wurde 2005 erstmals ausgelobt und an den österreichischen Schriftsteller Arno Geiger vergeben. Der Preis der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung wird am 27. April vergeben. Wie wichtig sind Preise?
Sie sind nicht nur wichtig wegen des Preisgeldes, sondern auch für die Wahrnehmung. Die meisten Autorinnen und Autoren leben nicht vom Buchverkauf, sondern von Lesungen Stipendien und Festivals. Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu.
Wie betrachten Sie derzeit die Literaturszene Österreichs?
Ich bin durchaus angetan von dem, was in der österreichischen Literaturszene zurzeit passiert. Kritikerkollegen sagen oft, betrachtet man das Bevölkerungsverhältnis zwischen Österreich und Deutschland – und vergleicht man mit der Schweiz – ist es schon erstaunlich, wie viele interessante Texte aus Österreich kommen. Und ich bin auch immer wieder erstaunt, wie viele gute und talentierte Autoren und Autorinnen nachrücken.
Der Leipziger Messeauftritt „Gastland Österreich“ ist sowohl für Autoren als auch Verlage wichtig. In Österreich sind 150 Verlage präsent, die man in Deutschland kaum kennt. Jährlich erscheinen rund 9.000 Bücher in österreichischen Verlagen. Bitte um Tipps: Welchen Verlag, welchen Autor, welche Autorin sollten wir kennenlernen?
Der Residenz Verlag ist für deutsche Verhältnisse ein kleiner Verlag, für österreichische ein mittlerer Verlag. Dieser Verlag ist ein Tipp, weil er ein breites Spektrum – Sachbuch, neueste österreichische Literatur bis Übersetzungen – vertritt. Der Traditionsverlag wurde in den 50er-Jahren gegründet, war ursprünglich im Staatseigentum und ist privat geführt. Der Autoren-Tipp: Tonio Schachinger hat ein sehr witziges Fußballerbuch beim österreichischen Verlag Kremayr & Scheriau herausgebracht: „Nicht wie ihr“. Mittlerweile hat ihn der deutsche Rowohlt Verlag „gekapert“: „Echtzeitalter“ heißt das neue Buch. Sein Held ist ein Computerspielgenie. Der Autorinnen-Tipp: Die gebürtige Slowenin Ana Marwan ist Wahl-Österreicherin und hat zuletzt den Bachmann-Wettbewerb gewonnen: „Verpuppt“ heißt ihr neuer Roman. Ein virtuoses Buch, in dem verschiedene Wahrheitsebenen verschwimmen.