Südamerika sucht seinen Kurs. Bei der Präsidentschaftswahl am 22. Oktober im zweitgrößten Land Argentinien hat ein Populist gute Chancen. Offen ist, was das für geo- und klimapolitische Fragen bedeutet, für die Südamerika zunehmend wichtig wird.
Seit Monaten elektrisiert ein Mann mit wuscheliger Haarpracht und glänzender Lederjacke Millionen Menschen in Argentinien. Er sagt, was man von Politikern in dem Land zwischen Anden und Atlantik sonst nicht hört. Zum Entsetzen der katholischen Kirche outet er sich als Anhänger freier Liebe. Seine Ziele sind für brave Bürger unerhört: Legalisierung von Drogen, Freigabe des Organhandels, unbegrenzte Einwanderung. Auch das Privatleben entspricht nicht dem Durchschnittsalltag: Er lebt allein in Buenos Aires – mit fünf Hunden, von denen einer Milton heißt, eine Reminiszenz an den neoliberalen Übervater Milton Friedman.
„Viva la libertad carajo!“ (Es lebe die verdammte Freiheit!) – das ist der Schlachtruf, den Javier Milei Tag für Tag mit stechendem Blick von Rednerpulten, Fernsehschirmen und Social-Media-Kanälen aus verkündet. Sein Ziel ist es, Staatspräsident des südlichsten Landes Amerikas zu werden.
Bis vor Kurzem taten ihn die etablierten Parteien als Spinner und Außenseiter ab. Doch seitdem der provozierende Exzentriker die Vorwahlen im Oktober gewonnen hat, nehmen sie den Holzhammerkandidaten ernst. Der linkspopulistische Finanzminister Sergio Massa muss mit dem Aus der Regierung rechnen. Die konservative Oppositionelle Patricia Bullrich fürchtet um ihre guten Chancen.
Milei gilt als sogenannter Anarchokapitalist. Vor 57 Jahren als Sohn eines Busfahrers geboren, absolvierte der heutige Parlamentsabgeordnete ein Ökonomiestudium, wurde Chefvolkswirt einer privaten Rentenversicherung und ist fachbuchschreibender Titularprofessor. Mithilfe eines der reichsten argentinischen Unternehmer gründete er die ultrarechte libertäre Parteienallianz La Libertad Avanza („Die Freiheit schreitet voran“). Mit ihr holte er bei den vorigen Wahlen aus dem Stand 17 Prozent Zustimmung.
Milei gilt als Populist und Anarchokapitalist
Kann Milei wirklich neuer Präsident des zweitgrößten lateinamerikanischen Landes werden? Ja, er kann. „Klar festzuhalten ist, dass bei den bevorstehenden Wahlen eine tiefgreifende Umwälzung des politischen Systems möglich ist,“ analysiert Susanne Käss. Die Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Argentinien sieht das als Folge der alarmierend schlechten Lage im zweitgrößten Land des Kontinents.
Es sind nicht nur die Armen, die unter der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten leiden. Auch der in Argentinien ausgeprägte Mittelstand kämpft in der drittgrößten Volkswirtschaft des Kontinents bei einer Rekordinflationsrate von 115 Prozent ums Überleben. Rund 40 Prozent der 46 Millionen Menschen sind in die Armut abgerutscht. Grassierende Schattenwirtschaft verdrängt Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge. Der Staat türmt Milliardenschulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) auf.
Das stolze Land des Fußballgottes Maradona ist so am Ende, dass viele bereit sind, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben – Hauptsache, es tut sich etwas. Mileis Bühnenauftritte mit lauter Rockmusik locken besonders viele junge Menschen an, deren Zukunft ungewiss ist und von denen die Besten bei der ersten Chance ins Ausland gehen. Sie stört es nicht, dass der exzentrische Volkstribun offen rechtsextreme Positionen vertritt, etwa das Leugnen der Verbrechen unter der Militärdiktatur (1976–1983).
Das Phänomen Milei ist symptomatisch für ganz Südamerika. Im Windschatten der weltpolitischen Wirrnisse wabert der Kontinent von Europa weitgehend unbeachtet vor sich hin. Ein buntes Potpourri an Persönlichkeiten regiert die 13 Nationen zwischen Panama-Kanal und Feuerland.
Im Nachbarland Argentiniens, Chile, wo man gerade den 50. Jahrestag des Militärputsches gegen den demokratisch gewählten Sozialisten Salvador Allende begangen hat, führt der jüngste Staatschef aller südamerikanischen Zeiten das Zepter. Ex-Studentenführer Gabriel Boric ist erst 37 Jahre alt. Er muss mit hauchdünner Mehrheit die enorme Polarisierung der chilenischen Gesellschaft meistern.
Bei der rechten Opposition, wo es immer noch glühende Anhänger des Diktators Augusto Pinochet gibt, beißt Chiles linksgrüne Ministerriege auf Granit. Ein Verfassungsreferendum, das weltweit revolutionäre Geschlechterparität sowie Umwelt- und Naturschutz festschreiben sollte, ist gescheitert. Die angekündigte Reform des privatisierten Rentensystems liegt auf Eis. Durchsetzen konnte Boric dagegen die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden, kostenlose Gesundheitsversorgung und eine Erhöhung des Mindestlohns.
Inzwischen ist der Nachkomme kroatischer Einwanderer in der Realpolitik angekommen. Eineinhalb Jahre nach Amtsantritt sagte Boric der Deutschen Welle: „Wenn man das Amt des Präsidenten übernimmt, muss man sich in bestimmten Bereichen anpassen.“
Klimaschutz nur mit Südamerika möglich
Nicht anpassen tut sich Boric indessen in der Außenpolitik. Als einziger Staatsführer Südamerikas stellt er sich hundertprozentig gegen den russischen Angriffskrieg und auf die Seite der Ukraine. Beim Lateinamerika-Gipfel in Brüssel ermahnte der frühere Revoluzzer seine politischen Freunde deutlich vor Aggressionsgelüsten: „Liebe Kollegen, heute ist es die Ukraine, aber morgen könnte es jeder von uns sein.“
Damit zielte der chilenische Präsident auch auf den 40 Jahre älteren Politprofi Luiz Inácio Lula da Silva – meist nur Lula genannt – im riesigen Brasilien. Mit ihm hatte Europa nach der Regentschaft des nationalistischen Trump-Fans Jair Bolsonaro auf einen Verbündeten gehofft. Der Mann mit der heiseren Stimme versteht sich als Wortführer aufstrebender Staaten, die nicht nur stark auf Russland, sondern auch nach China blicken – und weniger intensiv nach Europa und in die USA. Die Volksrepublik ist jetzt wichtigster Handelspartner Brasiliens. Der Sozialdemokrat flirtet mit einer Diktatur, die kein Streikrecht gewährt und deren Konzerne das Land mit jobgefährdenden Billigprodukten fluten.
Auch als Verwalter der riesigen Amazonas-Urwaldregion enttäuscht Lula. Bei einem Gipfeltreffen der Anrainerstaaten verweigerte er sich einem Aktionsplan zur Bewahrung des Regenwaldes. Den hatten sich insbesondere die Indigenen erhofft. „Lula ist nicht der lupenreine Umweltschützer, für den ihn viele im Westen halten,“ urteilt Wirtschaftsjournalist Thomas Fischermann aus Rio de Janeiro – bitter für die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die sagt: „Ohne Lateinamerika werden wir die Klimakrise nicht eindämmen.“ Javier Milei, der unkonventionelle Präsidentschaftskandidat, verspricht allen Frustrierten und Enttäuschten einen radikalen Neuanfang. Sollte er in Kürze den rosafarbenen Palast in Buenos Aires beziehen, will der Politiker und Professor den US-Dollar als Zahlungsmittel einführen und die Zentralbank auflösen – und die Ministerien für Bildung, Gesundheit und soziale Entwicklung gleich mit. Hunderttausende Staatsdiener würden entlassen. Der Staat solle nur Verteidigung, Innere Sicherheit und Außenbeziehungen erledigen, sagt er.
Egal, ob der anarcholibertäre Milei an die Macht kommt oder nicht und ob er wahr macht, was er verspricht – mit dem Heraushauen vorgeblich einfacher Lösungen ist der unermüdliche Agitator zum Blitzableiter für die Missgestimmten geworden. Das hat Tradition. Seit den Unabhängigkeitskriegen Anfang des 19. Jahrhunderts huldigen Südamerikaner der Idee, es brauche nur eines autoritären männlichen Anführers, eines „Caudillo“, um die Welt zu drehen. Der in Argentinien bis heute verehrte Nationalpopulist Juan Domingo Perón und seine Gattin Evita – der „Engel der Armen“ (†1952) – sind mit ihrer Luftschlosspolitik grandios gescheitert. Doch der Glaube hat die Toten überlebt.