Schon bei seiner ersten Titelverteidigung verliert Vincenzo Gualtieri seinen WM-Gürtel wieder. Die Niederlage in den USA war eingepreist, denn in Deutschland gab es kein Interesse von TV-Sendern.
Auf seinen Kampfnamen „Il Capo“ ist Vincenzo Gualtieri besonders stolz. Seine italienischen Familienmitglieder hatten ihm früher immer gesagt: „Wenn du später mal Profiboxer werden solltest, wäre das ein passender Name.“
Doch als „Chef“ im Ring fühlte sich der deutsche Mittelgewichtler mit italienischen Wurzeln im größten Kampf seiner Karriere nicht – ganz im Gegenteil. Der Weltmeister des Verbandes IBF wurde im WM-Vereinigungskampf am 14. Oktober in der Nähe von Houston von WBO-Champion Zhanibek Alimkhanuly regelrecht vorgeführt. Statt mit dem zweiten Gürtel nach Hause zurück zu fliegen, verlor der Wuppertaler seinen eigenen schon bei seiner ersten Titelverteidigung. Und Deutschland steht wieder ohne amtierenden Box-Weltmeister da. Es war – so bitter es klingt – ein einkalkuliertes Risiko gewesen. Und in gewisser Weise alternativlos. Gualtieri wusste, auf was für eine „Mission Impossible“ er sich da eingelassen hatte.
Ein einkalkuliertes Risiko
Das letzte Mal, dass ein deutscher Boxer einen WM-Kampf in den USA gewinnen konnte, liegt bereits 92 Jahre zurück: Damals, im Juli 1931, verteidigte ein gewisser Max Schmeling in Cleveland seinen Weltmeistertitel im Schwergewicht erfolgreich gegen den US-Amerikaner Young Stribling durch einen technischen K.o. in der 15. Runde. Zudem gab es in der Geschichte bislang erst drei deutsche Doppel-Weltmeister im Profiboxen: Schmeling, Dariusz Michalczewski und Sven Ottke. Aber nicht nur die historischen Parameter sprachen klar gegen Gualtieri, auch sportlich glich die Aufgabe einem Duell David gegen Goliath. Die Wettanbieter sahen in ihm einen klaren 1:13-Außenseiter. Alimkhanuly gilt in der Szene als Naturgewalt, dem Kasachen wird eine ähnlich glorreiche Karriere vorausgesagt wie seinem Landsmann Gennadi Golovkin. „Er ist bärenstark“, hatte Gualtieri schon vor dem Duell gesagt. Aber er und sein kubanischer Trainer Franquis Aldama hatten sich einen taktischen Plan ausgetüftelt. Dieser sah vor, dass Gualtieri in der zweiten Kampfhälfte das Tempo anziehen und mutiger in die Offensive gehen sollte, um die vermeintlichen konditionellen Schwächen des Kasachen auszunutzen. Doch dazu kam es nicht.
Der Lokalmatador – Alimkhanuly lebt und trainiert in den USA und gehört dem amerikanischen „Top Rank“-Team an – dominierte im 10 000 Zuschauer fassenden Fort Bend Epicenter von Beginn an. Die rund 40 mitgereisten deutschen Fans, die meisten von ihnen kamen aus Gualtieris Heimatstadt Wuppertal, hatten eigentlich nur bei der Vorstellung der Boxer Grund zum Jubel. Gualtieri wählte als Einlauf-Lied den Song „La vida es un carnaval“ der Salsa-Legende Celia Cruz. „Das motiviert mich, lockert mich auf und hilft, dass ich meinem Stil treu bleibe“, hatte der IBF-Champion im Vorfeld erklärt. Tänzerisch sei sein Boxstil – doch den Takt gab ganz klar sein Gegner an. Der Rechtsausleger setzte seine wirkungsvollste Waffe, den gefürchteten linken Aufwärtshaken, immer wieder geschickt ein. In der fünften Runde taumelte Gualtieri nach einem klaren Treffer erstmals stark, aber er konnte sich wieder fangen und der Gong rettete ihn vorerst.
Eine völlig verdiente Niederlage
Doch in der nächsten Runde das gleiche Bild: Alimkhanuly fand in der nicht mehr so stabilen Doppeldeckung Gualtieris eine Lücke, der linke Aufwärtshaken traf den Kopf des Deutschen, der in den Seilen hing und einen Schlaghagel über sich ergehen lassen musste. Ringrichter David Fields hatte keine andere Wahl, als sich schützend vor Gualtieri zu stellen und den Kampf abzubrechen – auch wenn der das im Adrenalinrausch etwas anders bewertete. „Ich finde, der Kampf wurde etwas zu früh abgebrochen. Ich wollte noch weiter machen“, sagte Gualtieri im Interview unmittelbar nach dem verlorenen Kampf. Doch dem 30-Jährigen war auch schon in jenem Moment bewusst, dass er völlig verdient verloren hatte. „Es ist klar, dass er gewonnen hat und ich ihm großen Respekt zolle. Er war der bessere Boxer. Herzlichen Glückwunsch“, sagte Gualtieri. Gezeichnet von einem Cut und einem geschwollenen linken Auge lobte er zudem seinen Widersacher: „Er hatte einen trockenen Schlag, einen guten und harten Schlag. Das kann man an meinem Gesicht erkennen.“
Diese Ehrlichkeit ehrt Gualtieri, genauso wie sein Kampfgeist. Doch boxerisch konnte er dem neuen Doppel-Weltmeister der Verbände IBF und WBO nicht mal ansatzweise das Wasser reichen. Ein zweiter Überraschungs-Coup wie bei seinem Titelgewinn im vergangenen Juli, als er in seiner Heimatstadt Wuppertal den favorisierten Brasilianer Esquiva Falcao einstimmig nach Punkten besiegt hatte, war diesmal außer Reichweite. Immerhin durfte sich der Boxer nach der zweiten Niederlage im 23. Profikampf über die größte Geldbörse seiner Karriere freuen. Die hätte er bei einer Titelverteidigung in Deutschland gegen einen schwächeren Gegner nie und nimmer kassiert, denn es gab kein wirkliches Interesse der TV-Sender. „Wir hätten gern auch noch zwei oder drei Kämpfe in Deutschland gemacht. Aber die Möglichkeiten, hier mit dem Boxen Geld zu verdienen, sind im Moment nicht besonders groß“, erklärte Promoter Ingo Volckmann vom Berliner Agon-Boxstall. Da der berühmte Alimkhanuly-Promoter Bob Arum seinen Schützling unbedingt als Doppel-Weltmeister vermarkten will, lockte er Gualtieri mit Geld und der Aussicht auf viel Ruhm. „Das Angebot war finanziell top“, verriet Volckmann: „Und die Chance auf eine Titelvereinigung gibt es nicht alle Tage.“ Gualtieri, der das fehlende TV-Interesse aus Deutschland als „traurig“ empfindet, willigte schließlich ein – obwohl sein Titelgewinn erst dreieinhalb Monate zurücklag.
„Ich bin Weltmeister, es wird auch an der Zeit, dass man Geld verdient“, begründete er. Ein Grund, den auch Henry Maske nachvollziehen kann, auch wenn er eine erste Titelverteidigung in den USA als „Herausforderung“ bezeichnete. Während Maskes Karriere waren die Zeiten noch ganz andere. In den 1990er-Jahren lockten der „Gentleman“ und Axel Schulz sowie andere deutsche Top-Boxer ein Millionen-Publikum vor die Bildschirme. Doch diese Zeiten sind vorbei. RTL konzentriert sich auf Fußball und nach dem Rechte-Erwerb vor allem auf die NFL im American Football. Auch die ARD zeigt so gut wie keine Profikämpfe mehr live im Hauptprogramm. Der WM-Vereinigungskampf von Gualtieri lief immerhin im Livestream zur Morgenstunde. Maske wünschte seinem Nachfolger „das nötige Quäntchen Glück und die Energie, um dort zu bestehen“. Doch es reichte nicht. Und so geht das Warten auf den einen Heilsbringer, der dem in Deutschland am Boden liegenden Boxen neues Leben einhaucht, weiter.
„Wir haben gute junge Boxer“
„Ick seh des nich’ so schwarz wie alle“, sagte Axel Schulz zur Krise der Sportart. Er selbst hatte einst als Schwergewichtler Massen in die Hallen und vor die TV-Schirme bewegt, obwohl er nie einen WM-Titel gewinnen konnte. Schulz ist optimistisch, was die Zukunft angeht: „Wir haben gute junge Boxer.“ Einer von ihnen ist Silvio Schierle, doch der 26 Jahre alte Amateurkämpfer will vorerst nicht ins Profilager wechseln. Das sei „momentan finanziell und karrieremäßig nicht attraktiv“, sagte der Sportsoldat der FAZ. Sein vernichtendes Urteil über das deutsche Profiboxen: „Zu abgeflacht, unspektakulär und schlecht vermarktet.“ Aktuell konzentriert sich der Halbschwergewichtler auf die Qualifikation für Olympia 2024 in Paris. Sollte er dort eine Medaille gewinnen – womöglich die goldene – stünden die Vermarktungschancen für einen Wechsel ins Profilager deutlich besser. Bei Henry Maske, Olympiasieger von 1988, hatte das auch gut funktioniert. Doch ein Selbstgänger wäre es nicht, weiß Schierle. Die Medien hätten sich vom Boxen mehr oder weniger abgewendet. „Wenn berichtet wird, sind es meistens negative Schlagzeilen, die hängen bleiben. Wir sind die Besten, die es in Deutschland gibt, aber das wird nicht so anerkannt wie beim Fußball.“
Die Verantwortlichen bei den TV-Sendern argumentieren, dass es im Boxsport an erfolgreichen und charismatischen Typen fehle, die Einschaltquote garantieren würden. Einer, der dies widerlegen will, ist Viktor Jurk. Der Flensburger ist 23 Jahre alt, ein eloquenter Gesprächspartner und im Schwergewicht beheimatet, der Königsklasse im Profiboxen. Das große Talent boxt an diesem Samstag (28. Oktober) in München zum sechsten Mal als Profi, seine fünf bisherigen Duelle hat er allesamt gewonnen. Weitere Erfahrung hat er als Sparringspartner des britischen Ex-Weltmeisters Anthony Joshua vor dessen WM-Titelkampf im September 2021 gegen Oleksandr Usyk aus der Ukraine gesammelt.
„Ich bin ein großer AJ-Fan, habe alle seine Kämpfe gesehen, weiß wie er boxt, wie er ist“, sagte Jurk, der vom Boxstil aber eher dem Dreifach-Weltmeister Usyk ähnelt: „Ich bin zwar ein Stück größer als Usyk, lebe aber so wie er von meiner Beinarbeit und meiner Beweglichkeit.“ Jurk wird von keinem Geringeren als Bernd Bönte gemanagt, der schon die Klitschko-Brüder Wladimir und Vitali nach ganz oben gebracht hat. „Bernd sagt immer zu mir: Viktor, du bist 2,04 Meter groß, Rechtsausleger, siehst nicht schlecht aus, studierst, bist mehrsprachig, hast kein Problem mit den Kameras“, erzählte die deutsche Schwergewichts-Hoffnung: „Du hast die Voraussetzungen, um das deutsche Boxen wieder aufzuwecken.“