Mit seinem Fabelweltrekord ist Kelvin Kiptum wie aus dem Nichts in die Geschichtsbücher gelaufen. Jetzt ist er der Gejagte – und die magische Zwei-Stunden-Marke realistischer denn je. Die Athleten profitieren auch von Hightech-Schuhen.
Natürlich ist Eliud Kipchoge ein höchst ehrgeiziger Mensch, ansonsten hätte er es nicht zu solch riesigen Erfolgen im Leistungssport gebracht. Doch die Jagd nach Rekorden, Titeln und Goldmedaillen spielt der Kenianer lieber herunter. Auf die Frage nach seiner Faszination fürs Laufen antwortet er meist philosophisch („Ein Marathon ist wie ein gesamtes Leben“) oder mit seinem Standard-Satz: „Ich liebe den Sport.“ Deshalb betreibt er ihn auch mit nun fast 39 Jahren noch, obwohl er bereits (beinahe) alles erreicht hat. Was treibt ihn noch an? Als erster Marathonläufer der Welt bei einem offiziellen Rennen die Zwei-Stunden-Marke unterbieten? Oder 2024 in Paris zum dritten Olympiasieg über 42,195 Kilometer laufen? „Ich bin Afrikaner“, sagt Kipchoge: „Wir glauben, dass man besser nur einen Hasen auf einmal jagt.“ Und seit dem 8. Oktober hat dieser Hase einen Namen: Kelvin Kiptum.
Der Shootingstar der Läuferszene stellte beim Marathon in Chicago einen Fabelweltrekord auf. Kiptum überquerte nach 2:00:35 Stunden die Ziellinie und war damit satte 34 Sekunden schneller als sein kenianischer Landsmann Kipchoge bei dessen alter Bestmarke, die dieser beim Berlin-Marathon vor einem Jahr aufgestellt hatte. Für viele Sportfans kam diese geschichtsträchtige Leistung wie aus dem Nichts – für Kipchoge keineswegs. „Ich war nicht überrascht, dass Kiptum den Weltrekord gebrochen hat“, sagte der Altstar, und er betonte sogar: „Ich freue mich darauf, dass Rekorde gebrochen werden, weil ich ihnen den Weg gezeigt habe.“ Es sei ja „das Schöne am Sport“, wenn Rekorde gebrochen werden, meinte er: „Es zeigt, dass Menschen irgendwo arbeiten, sich Ziele setzen und auf diese Ziele hinarbeiten.“
Doch klar ist auch: Am liebsten würde Kipchoge seinen eigenen Namen als Inhaber des Weltrekords lesen. Und deswegen wird er auch alles tun, um Kiptum wieder vom Marathon-Thron zu stoßen. „Ich bin immer noch hungrig darauf, schnell zu laufen“, sagte er: „Ich betrachte mich als der Beste im Training und im Wettkampf.“ Er forderte seine Mitstreiter auf, auch „sehr hart zu arbeiten, damit wir mithalten und Rekorde brechen können“. Ab sofort ist aber nicht mehr er, sondern Kiptum der Gejagte. Vielleicht ja schon beim New York Marathon am 5. November. Die Jagd nach der magischen Zwei-Stunden-Marke scheint gerade erst begonnen zu haben. Die Entwicklung bei den Schuhen spielt neben Talent und Fleiß auch eine entscheidende Rolle. Aber reicht das als Grund für Kiptums famosen Aufstieg in Windeseile?
Kaum einer konnte die Leistung erklären
In Chicago war der 23-Jährige gerade mal seinen dritten Marathon gelaufen. Ein Herantasten an Spitzenzeiten gab es bei ihm nicht: Bei seiner Premiere vor knapp elf Monaten in Valencia stand hinter seinem Namen eine großartige Zeit von 2:01:52 Stunden in den Ergebnislisten – als jüngster Marathonläufer der Geschichte, der unter 2:02:00 Stunden blieb. Beim zweiten Lauf im April in London kam er mit 2:01:25 dem damaligen Weltrekord Kipchoges schon verdächtig nahe. Kiptum war also sportlich gesehen nicht wirklich ein unbeschriebenes Blatt – und dennoch wusste die Szene kaum etwas über ihn, als er an jenem 8. Oktober in Chicago Sportgeschichte schrieb. Selbst Kenner der Szene und erfahrene Leichtathletik-Berichterstatter wussten nur sehr wenig über den neuen Weltrekordler. Noch schwerer taten sie sich, dessen Leistungssprung plausibel zu erklären. Kiptum hat sich nicht – wie die meisten anderen erfolgreichen Marathonläufer vor ihm – seine Wettkampfhärte zunächst über viele Jahre auf der Tartanbahn erworben. Kipchoge zum Beispiel wechselte erst im Alter von 28 Jahren als 5.000-Meter-Weltmeister auf die Straße und steigerte sich dort mit der Zeit. Doch in der Szene ist ein neuer Trend zu sehen: Junge Läufer starten gleich mit der Marathon-Karriere, in der sie teils deutlich mehr Geld verdienen können.
Dass Gervais Hakizimana, ein 36 Jahre alter Ex-Läufer aus Ruanda, als Kiptums Trainer zu den Medien sprach, verwunderte Insider ebenfalls. Davon war zuvor nichts bekannt gewesen. Hakizimana führte vier wesentliche Gründe für die Leistungsexplosion seines Schützlings an: die Höhe in Kiptums Heimat im kenianischen Hochland, das Ausnahmetalent, die Furchtlosigkeit – und der Trainingseifer. Nach Angaben seines Trainers läuft Kiptum im Training wöchentlich zwischen 250 und 280 Kilometern, manchmal sogar mehr als 300. Bei Kipchoge seien es zwischen 180 und 220 Kilometer. Ein Vergleich veranschaulicht dieses immense Pensum: Bei 300 Wochen-Kilometern würde Kiptum mehr als einen Marathon an jedem Tag absolvieren. Das widerspricht so ziemlich allen gängigen Marathon-Trainingsplänen.
Er könne „vor Kiptums Leistung nur den Hut ziehen“, sagte der deutsche Langstreckenläufer Mohamed Abdilaahi, der nur ein Jahr älter ist als der Weltrekordler: „Interessant wird sein, wie lange er das durchhalten kann, weil das natürlich noch mal ganz andere Sphären sind.“ Diese Gedanken gehen auch Kiptums Trainer durch den Kopf.
„Er trainiert sehr viel“, sagte Hakizimana im Interview der Nachrichtenagentur AFP. Zu viel – wenn es nach dem Trainer geht. „Bei diesem Tempo droht er zu zerbrechen, ich habe ihm angeboten, das Tempo zu drosseln, aber er will nicht.“ Er habe Angst, „dass er sich irgendwann verletzt“. Nicht nur das. Ein solches Trainingspensum würde nach allen bisherigen Erkenntnissen der Trainings- und Gesundheitslehre auch bedeuten, dass der Wunderläufer kaum imstande wäre, wie Kipchoge auch im hohen Alter noch wettbewerbsfähig zu sein. „Ich habe ihm gesagt, dass er in fünf Jahren verbrannt ist“, sagte Hakizimana, „dass er sich beruhigen muss, um in der Leichtathletik zu bestehen“.
Kenianer oft negativ aufgefallen
Der renommierte Doping-Experte Fritz Sörgel hält einen Trainingsumfang von etwa 300 Kilometern wöchentlich generell für möglich. „Das Wichtigste für einen Marathonläufer ist die Ausdauer. Und da hat er Vorteile, wenn er seinem Körper im Training etwas zumutet, was andere nicht tun“, sagte er im Sport1-Interview. Die wichtigste Frage dabei sei, „ob jemand ehrgeizig genug ist, seinen Körper dermaßen zu schinden“. Das scheint der Fall zu sein, Kiptum brennt vor Ehrgeiz. „Der Weltrekord ist für jetzt nicht der Plan“, hatte er kurz vor dem Chicago-Marathon gesagt: „Aber für die Zukunft weiß ich, dass ich in die Nähe von zwei Stunden laufen kann.“ Sollte er gut trainieren und gesund bleiben, könnte er die magische Marke als erster Mensch der Welt erreichen.
Spätestens jetzt trauen ihm das auch alle zu. Doch groß ist auch die Skepsis, die eine solche Leistungsfähigkeit in so jungen Jahren hervorruft. Wer wie Kiptum in seinem erst 15. verbrieften Lauf auf der Straße in die Geschichtsbücher rennt, muss mit Dopingfragen rechnen. Zumal kenianische Läufer diesbezüglich zuletzt mehrfach negativ aufgefallen sind. Der kenianischen Anti-Doping-Agentur wird immerhin ein strengeres Durchsetzen der Richtlinien attestiert, allein im Juni sperrte sie gleich 20 Athleten und Athletinnen nach positiven Tests vorläufig. Im September folgte die Vier-Jahres-Sperre für 5.000-Meter-Läufer Michael Kibet, einen Monat später wurde der kenianische Marathonläufer Titus Ekiru wegen Dopings für zehn Jahre aus dem Verkehr gezogen. Bei Untersuchungen stellte sich heraus, dass Ekiru über Krankenhausbesuche und Injektionen falsche Angaben gemacht hatte. Der Aufklärungswille bleibt in Kenia aber weiterhin eher überschaubar.
„Es gibt im Moment rund 50 suspendierte Kenianer“, erinnerte der französische Langstreckenläufer Yohan Durand, „und jetzt taucht einer auf, der alle schlägt! Das ist zu beeindruckend.“ Und Jean-Claude Vollmer, Trainer des französischen Marathon-Rekordhalters Morhad Amdouni (2:05:22 Stunden), meinte über Kiptum: „Entweder ist es die Leistung des Jahrhunderts, oder es ist ein phänomenaler Betrug.“ Sörgel will sich zu keiner der beiden Positionen klar beziehen, sagt lediglich: „Lassen wir Kiptums Leistung erst mal da, wo sie auch bei Bob Beamon hingehörte: ins Geheimnisvolle, Unerklärliche.“ Auch bei Beamons Weitsprung-Weltrekord 1968 bei Olympia in Mexiko (8,90 Meter) habe man viel diskutiert, was die Leistung hervorgerufen haben könnte. „Tartanbahn, Rückenwind, Höhenluft. Ich wüsste kein Dopingmittel, das so einen plötzlichen Leistungsanstieg an einem Tag hervorrufen hätte können“, sagte der Doping-Experte, der bei Kiptum aktuell „keinen Ansatzpunkt“ für die Einnahme unerlaubter Substanzen sieht.
Debatte um Schuhe entbrannt
Unbestritten ist: Die aktuell enorme Entwicklung bei den Laufschuhen wirken sich positiv auf die Leistungen aus. Als Tigist Assefa beim Marathon in Berlin den Weltrekord bei den Frauen trotz widriger Bedingungen gleich um 2:11 Minuten auf 2:11:53 Stunden drückte, war nicht nur die Äthiopierin der Star. Auch ihre Schuhe erlangten weltweite Berühmtheit. Die Adidas „Adios Pro Evo 1“, von denen jedes Paar 500 Euro kosten und nur einmal getragen werden soll, wurden anschließend als „Wunderschuhe“ gepriesen. „Das ist ein absolutes Elitenmodell – vergleichbar mit einem Reifen in der Formel 1“, erklärte Urs Weber vom Laufsportmagazin „Runner’s World“: „Der ist auch nach einem Rennen hin, aber bei den Leuten bleibt die Marke im Kopf.“
Kiptum trug ein Modell der Adidas-Konkurrenz Nike, die Hightech-Treter mit dem Namen „Alphafly Next Prozent 3“ sollen erst im Frühjahr auf dem freien Markt erhältlich sein. In ihnen lief er die zweite Hälfte des Marathons (59:47 Minuten) sogar deutlich schneller als die erste (1:00:48 Stunden). Viele Läufer berichten, dass sie generell in den neuen Hightech-Schuhen deutlich weniger Ermüdung verspüren. Das hilft im Rennen, aber mehr noch im Training. Damit kann die Regenerationszeit verkürzt und das Trainingspensum erhöht werden.