Scheinbar aus dem Nichts hatte sich 2023 ein 16-jähriger Südfranzose in die internationale Tischtennis-Elite katapultiert. Nach Abschluss der aktuellen Saison rangiert der inzwischen 17-jährige Felix Lebrun auf Rang acht der Weltrangliste und gilt als größter künftiger Herausforderer der Chinesen.
Der Ehrentitel „Wunderkind“ wird inzwischen in den diversen Sportarten etwas zu häufig verwendet. Doch auf den am 12. September 2006 im südfranzösischen Montpellier geborenen Felix Lebrun scheint die Bezeichnung mal zuzutreffen. Schaut man sich den schlaksigen Teenager mit blondem Haupthaar und Brille etwas genauer an, so wirkt in seiner Physiognomie vieles noch ziemlich kindlich. Doch Vorsicht, denn hier trügt der Schein. Denn sobald der Jungspund, der neben dem Sport in naher Zukunft auch noch sein gymnasiales Abitur ablegen möchte, seine Arbeit an der Tischtennisplatte aufnimmt, pflegt er trotz seiner Jugend schon Angst und Schrecken unter seinen größtenteils deutlich älteren und erfahreneren Kontrahenten zu verbreiten. Deutschlands derzeit wohl stärkster Tischtennis-Star Dimitrij Ovtcharov hält den inzwischen 17-Jährigen jetzt schon für „einen der besten, wenn nicht den besten Spieler hinter den Chinesen“.
Medaillen-Hoffnung bei Olympia
Sogar aus dem Lager der chinesischen Pingpong-Übermacht war gelegentlich schon zu hören, dass man dort Felix Lebrun durchaus als größten künftigen Herausforderer der sieggewohnten Spieler aus dem Reich der Mitte auf der Rechnung habe. Lebrun hatte 2021 schon als 15-Jähriger erstmals in den professionellen Tischtennis-Weltzirkus hineingeschnuppert. Dabei hatte er in Novo Mesto den damals auf dem 26. Platz der Weltrangliste rangierenden Taiwanesen Chuang Chih-Yuan besiegt und ab 2022 so richtig auf der Tour mitgemischt. In Europa dürfte er bald schon in die Fußstapfen von Ovtcharov und Timo Boll treten können. In Frankreich, das nicht gerade als Tischtennis-Großmacht bekannt ist, wird Lebrun als großer Medaillen-Hoffnungsträger für die Olympischen Spiele 2024 gehandelt, weshalb sich längst Dokumentarfilm-Teams an seine Fersen geheftet haben, um seinen Weg nach Paris minutiös aufzuzeichnen. Auch im Herren-Doppel dürfte die Grande Nation bei der olympischen Plakettenvergabe ein gehöriges Wörtchen mitreden. Denn den Namen Lebrun gibt es gleich im Doppelpack: Gemeinsam mit seinem drei Jahre älteren Bruder Alexis bildet Felix ein französisches Weltklasse-Doppel, das die Saison 2023 im ITTF Table Tennis World Ranking nach einem sensationellen Triumph Anfang Oktober 2023 beim WTT Star Contender im chinesischen Lanzhou über die favorisierten Lokalmatadoren Yingbin Xu und Shidong Lin als bestes europäisches Duo auf dem siebten Platz hinter chinesischen, japanischen und südkoreanischen Doppeln beenden konnte – zwei Plätze vor dem besten deutschen Team Patrick Franziska und Dimitrij Ovtcharov.
Was das Herren-Einzel betrifft, so bereitet neben den übermächtigen Chinesen ausgerechnet Bruder Alexis dem Youngster noch die größten Kopfschmerzen. Denn gegen seinen direkten Blutsverwandten hat Felix laut eigenem Bekunden noch kein einziges wichtiges Match gewinnen können. Bei den französischen Meisterschaften 2023 beispielsweise musste er sich im Finale glatt mit 4:1 geschlagen geben, auch bei den nationalen Titelkämpfen 2022 war er im Halbfinale an seinem Bruder gescheitert. Was Felix allerdings familiär gelassen hingenommen hatte: „Er weiß genau, wie er gegen mich spielen muss.“ Und Alexis, der schon einige Verletzungen zu verkraften hatte und in der Weltrangliste nach Saisonende 2023 den 23. Platz belegte, geht davon aus, dass er schon bald gegen den Kleinen kaum mehr eine Chance haben wird: „Im Moment habe ich noch nicht verloren, aber es wird immer schwieriger. Als wir kleiner waren, hatte ich noch den Vorteil des Alters und des Körpers, aber jetzt spielt er immer besser, also wird es immer komplizierter.“
Ovtcharov-Sieg „sehr wichtig“
Felix selbst tauchte im Juli 2022 erstmals unter den Top-100 der Weltrangliste auf Platz 70 auf. Seinen ersten großen internationalen Titel konnte er bei den European Games am 27. Juni 2023 erringen, als er im Finale den Portugiesen Marcos Freitag schlagen und sich damit als erster französischer Spieler zum Europameister küren konnte. Wenig später sollte er beim WTT Contender 2023 im türkischen Antalya einen ersten Meilenstein in seiner noch jungen Karriere setzen. Nachdem er schon im Viertelfinale den damals Weltranglisten-Vierten Hugo Calderano aus Brasilien ausschalten konnte, gelang ihm im Finale am 22. Oktober 2023 auch noch ein 4:3-Sieg über den Deutschen Dimitrij Ovtcharov. „Gegen einen Spieler wie Ovtcharov zu gewinnen, ist sehr wichtig für mich“, so Lebrun direkt nach seinem Endspielsieg. Der ihm zudem erstmals den Sprung unter die Top Ten der Weltrangliste einbringen sollte (was einem Spieler aus der Grande Nation zuletzt 2018 mit Simon Gauzy gelungen war), genauer gesagt auf den neunten Platz und damit nur eine Position hinter seinem bezwungenen deutschen Gegner als damals bestplatzierten Europäer. Damit war Lebrun weltweit der drittjüngste Spieler aller Zeiten, dem der Einzug in die Top Ten gelungen war. Europäischen Spielern war das vor ihm noch niemals gelungen, lediglich der Japaner Tomokazu Harimoto (14 Jahre, zehn Monate und vier Tage) und der Chinese Fan Zhendong, der Weltranglisten-Erste der abgelaufenen Saison 2023 (16 Jahre, fünf Monate und neun Tage) waren bei ihrer ersten Top Ten-Platzierung noch jünger gewesen.
Als Initialzündung für seine Leistungsexplosion sah er selbst seine Erfolge bei den European Games an, wo er neben der Einzel-Goldmedaille auch noch Bronze im Mannschaftswettbewerb errungen hatte: „Ich denke, der Auslöser waren die Europaspiele. Ich habe es geschafft, meinen ersten großen Wettkampf zu gewinnen und im Teamwettbewerb ungeschlagen zu bleiben, was mir Selbstvertrauen gegeben hat.“ Allein die Chinesen, die im Jahresabschluss-Ranking 2023 mit Fan Zhendong, Wang Chuquin, Ma Long und Liang Jingkun die ersten vier Plätze belegt hatten, waren in Person von Ma Long, dem laut Ovtcharov besten Tischtennis-Spieler aller Zeiten, noch zu stark für Lebrun gewesen. Gleich zweimal musste sich Lebrun jeweils im Halbfinale eines Mega-Turniers dem chinesischen Ausnahmekönner Ma Long geschlagen geben, beim WTT Star Contender in Lanzhou im Oktober 2023 und bei den WTT Champions in Frankfurt am Main im November 2023, wo er unter anderem den Deutschen Topspieler Dang Qiu aus dem Turnier hatte werfen können. Felix Lebrun beendete die Saison 2023 auf dem achten Platz im World-Ranking, neben den vier schon genannten Chinesen lagen lediglich der Brasilianer Hugo Calderano, der Taiwanese Lin Yun-Ju und der Chinese Lin Gaoyuan noch vor ihm. Dafür hatte er das einstige japanische „Wunderkind“ Tomokazu Harimoto hinter sich lassen können.
Spiel mit Penholder-Griff
Tischtennis war Felix und seinem älteren Bruder Alexis gleichsam in die Wiege gelegt worden. Weil sein Vater Stéphane Lebrun als ehemalige Nummer sieben der französischen Rangliste und sein Onkel Christophe Legoût als 14. der Weltrangliste dieser Profession schon erfolgreich nachgegangen waren. Im zarten Alter von gerade mal drei Jahren hielt Felix, auf der Platte sitzend, erstmals einen Schläger in der Hand. Laut eigenem Bekunden legte er sich schon mit vier Jahren den eigentlich nur von Chinesen so richtig beherrschten sogenannten Penholdergriff zu, bei dem der Schläger wie ein Stift gehalten wird. Weil er diese Schlägerhaltung, der nachgesagt wird, dass sie Nachteile beim Spielen einer aggressiven Rückhand habe, dafür aber ein freieres Handgelenk ermöglichen soll, bei einem in Montpellier zu Trainingszwecken weilenden Chinesen namens Chen Jian gesehen hatte. Doch dank eines knallharten sechsstündigen täglichen Trainings, zunächst unter der Aufsicht seines Vaters, inzwischen unter seinem Coach Nathanael Molin, hat Felix trotz Penholdergriff die Rückhand im Rahmen seiner jugendlichen Unbekümmertheit zu seiner stärksten Waffe perfektionieren können. Als Offensivspieler steht er ganz nah an der Platte und pflegt beim Return den Speed des Balles seines Gegners zu nutzen, um selbst mit noch schnelleren Bällen antworten zu können. „Das Ziel ist es, so weit wie möglich Fortschritte zu machen, um zu versuchen, in Paris 2024 eine Chance auf eine Medaille zu haben“, so Lebrun.
Über seine schärfsten Konkurrenten bei diesem Vorhaben ist er sich natürlich voll im Klaren: „Die Chinesen sind die Stärksten, da gibt es keinen Zweifel. Dort ist Tischtennis der Nationalsport, es ist ihr ureigenster Fußball. Wenn sie die Disziplin immer noch dominieren, werden wir unser Bestes tun, um sie herauszufordern.“ Ungewöhnlich übrigens, dass der Aufstieg der beiden Lebrun-Brüder abseits der französischen Tischtennis-Leistungszentren in einem unbedeutenden Club ihrer Heimatstadt möglich werden konnte, der lange Zeit nicht einmal der obersten nationalen Liga angehört hatte, sondern nur zweitklassig gewesen war. Erst dank der Brüder Lebrun war in der Saison 2022/2023 der Aufstieg gelungen. Was aber nichts daran ändern sollte, dass Felix, der schon in seiner Juniorenzeit durch den Gewinn nationaler und internationaler Titel auf sich aufmerksam machen konnte. Sein Bruder Alexis konnte in Montpellier nach wie vor in einem speziell auf sie abgestimmten, zahlenmäßig überschaubaren und familiär geprägten Umfeld mit eigenem Fitnesstrainer nach von chinesischen Vorbildern übernommenen Trainingsmethoden arbeiten.