Von Frankreich bis Litauen, von den Bergen bis zum Meer, im 19. Jahrhundert entstanden in Europa zahlreiche Künstlerkolonien, so auch in Dachau bei München.
Liest man den Namen Dachau, denkt fast jeder sofort an das ehemalige Konzentrationslager beziehungsweise an die heutige Gedenkstätte, deren Besucherzahlen mit jetzt fast einer Million wieder das Vor-Pandemie-Niveau von 2019 erreicht haben. Dass aber die nördlich von München gelegene Kleinstadt Ende des 19. beziehungsweise Anfang des 20. Jahrhunderts einmal, neben Worpswede im Norden, eine der bedeutendsten Künstlerkolonien Deutschlands war, ist heute nur wenigen bekannt. 2019 eröffnete Oberbürgermeister Florian Hartmann einen von ihm initiierten Künstlerweg auf den Spuren der Maler. Seit 2022 ist der 33-Jährige auch Präsident der Euroart: „Wir sind ein Netzwerk von ehemaligen Künstlerkolonien. Einige von ihnen haben auch solche Künstlerwege und da habe ich mir überlegt, das könnte auch eine interessante Attraktion für Einheimische und Touristen gleichermaßen sein.“
46 Künstlerkolonien aus zwölf Ländern sind mittlerweile in der 1994 in Brüssel gegründeten Vereinigung Europäischer Künstlerkolonien vertreten. Ob in Ahrenshoop an der Ostsee, Nida im heutigen Litauen oder Katwijk in Holland, wie Pilze schossen sie Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Boden. Vorbild war allen die Schule von Barbizon in der Nähe von Paris, deren Künstler die Pleinairmalerei, das Malen in der freien Natur, zu ihrem Credo erhoben hatten.
Ein Netzwerk aus 46 Künstlerkolonien
Was aber hat die Künstler bereits in den 1850ern gerade an Dachau so gereizt? Carl Spitzweg und sein Maler-Freund Eduard Schleich der Ältere wanderten schon damals von München aus hierher. Sicher zog sie nicht nur die pittoreske Altstadt mit dem später veränderten Renaissance-Rathaus an, die Zwiebelbetürmte St.-Jakob-Kirche oder der Barockbau des Ziegler-Bräu-Gasthofes, in dem Spitzweg so gern abstieg.
Bürgermeister Florian Hartmann steht mit mir auf der Rathausterrasse mit weitem Blick in die Ebene. „Das Besondere an Dachau ist seine Lage. Wir sind hier die erste Erhebung nach der sogenannten Münchener Schotterebene. Das ist hier so eine richtige Hangkante und von Dachau aus meint man, man könnte auf München herabschauen. Bei Föhnlage sehen wir das gesamte Alpenpanorama vor uns.“
Das sehen wir zwar heute auf Grund des Dunstes nicht, aber man sieht es auf dem Gemälde „Blick vom Karlsberg Dachau gegen das Gebirge“, 1861 in quasi cineastischem Breitwandformat an Ort und Stelle geschaffen von Spitzweg-Freund Schleich. Er gilt als der Erfinder des Panorama-Bildes. Auf der Rathausterrasse wird er mit einer geschwungenen Bildstele gewürdigt, die erste von insgesamt 18, die den Künstlerweg durch Dachaus Innenstadt markieren.
Der Oberbürgermeister muss nun in sein Büro zurück und ich wandere über Treppen hinunter und durch ein kleines Portal in der ehemaligen Stadtmauer. Hier steht die 18. Stele mit dem Karlsberg von Jean Lehmann, genannt ILLS, von 1929. Hier, wo einst das Münchener Tor stand, ist auch der Endpunkt des Künstlerweges. Und ILLS steht auch für das Ende der Entwicklung der Künstlerkolonie, die ihren Höhepunkt in der Zeit um 1900 hatte. Am Fuße des 500 Meter hohen Karlsbergs angelangt, treffe ich Kunsthistorikerin Elisabeth Boser zu einem Spaziergang auf den Spuren der Dachauer Maler. Sie ist die Geschäftsführerin der Dachauer Galerien und Museen. Es geht nun flott den schattigen Mühlbach entlang.
„Erstens haben sie natürlich die Natur gesucht“, erklärt Boser, „und Dachau war auch nicht weit von München, wo sie ihre Bilder verkauften. Zweitens konnten sie hier unbeobachtet von Akademie und Gesellschaft arbeiten.“ Das war besonders für die „Malweiber“, wie Malerinnen damals etwas despektierlich genannt wurden, interessant – mit ihren charakteristischen, langen Kitteln.
„Die Frauen waren noch nicht an den Akademien zugelassen und mussten sich Plätze suchen, wo sie an den privaten Malschulen studieren und wo sie ungestört im Freien arbeiten konnten“, erzählt die Galerie-Chefin, während wir zwischen Mühlbach und der Amper entlangschlendern, die ihrem Wehr entgegenfließt. Zwei dieser Dachauer Malerinnen, mit ihrem bürgerlichen Background eher „höhere Töchter“, haben auf dem Künstlerweg ihre Stelen erhalten.
„Die eine ist Lily Hildebrandt-Uhlmann, die hier bei Adolf Hölzel studiert hat und später den Bildhauer Hans Hildebrandt geheiratet hat. Ihr Bild zeigt die Münchener Straße mit Blick auf Schloss und Kirche.“ Mitten auf der heutigen Haupteinkaufsstraße – damals noch eine Allee – steht ihre Bildstele. Paula Wimmer malte ihr farbenprächtiges „Volksfest“ auf der Amperbrücke, wo jetzt an sie mit Bild und Text erinnert wird. An einer Weggabelung am Amper-Wehr zeigt mir Elisabeth Boser die Kopie eines Ludwig-Dill-Gemäldes von 1900. Dill gehörte mit Adolf Hölzel und Arthur Langhammer zum Dreigestirn der „Neu-Dachauer“, die als die eigentlichen Gründer der Künstlerkolonie gelten. „Von Dill sehen wir hier ‚Das weiße Moos‘, das sich aber etwas mehr Richtung Gebirge befand. Damals war das viel weniger baumbestanden, eine flache Ebene und das Moos, durchzogen von Entwässerungskanälen, diente zum Torfabstich.“
Max Liebermann kam gern nach Dachau
Das Dachauer Moos war eine nacheiszeitliche Moorlandschaft, die heute fast verschwunden ist. Bedeckt war sie mit einer weißen Kalkschicht, die im Bild ein zentrales Highlight inmitten der bräunlichen und dunkelgrünen Töne der Landschaft setzt. Die Farbgebung, inspiriert von der oft dunstüberzogenen Natur hier im Voralpenland, erinnert an die von Max Liebermann. Und ja, der Berliner besuchte gern seine Malerfreunde in Dachau, die sich hier teils angesiedelt hatten, teils auf Mal-Sommerfrische in Gasthöfen wohnten, wo sie zur Freude der Wirte gern und viel feierten. Nach anfänglichem Fremdeln entdeckten die Dachauer, dass es sich mit den Bohemiens ganz gut Geld verdienen ließ. Mit Ateliervermietung, mit Farbengeschäften, und auch die Kinder fanden ihr kleines Auskommen, schildert Boser. „Die Jungen haben sich als ‚Malbuben‘ den Künstlern angedient und sind dann als ‚Tragesel‘ mit ihnen mitgelaufen.“
Als wir die Treppen zur Schlossterrasse der ehemaligen Wittelsbacher Sommerresidenz hinaufsteigen, leuchtet uns ein kraftvoller Pinselstrich im dunklen Gehölz entgegen – „Lovis Corinth“, erklärt die Kunsthistorikerin, „er ist in München ausgebildet worden und in den 1890er-Jahren für die Freiluftmalerei hierhergekommen.“ Er hat das an sich recht unspektakuläre „Waldstück“ dankenswerter Weise datiert und mit Titel versehen. Eine genaue Stelle lasse sich nicht identifizieren, so Elisabeth Boser. Gerade sind wir in der Gemäldegalerie angelangt. Sie beheimatet die rund 250 Werke umfassende Sammlung der Dachauer Künstlerkolonie, darunter auch den Corinth. Das rund 67 x 87 Zentimeter große Bild überrascht den Besucher mit viel dunkleren Farben und diffuserer Pinselführung als auf der Bildstele. Nicht nur deswegen lohnt sich ein Besuch in dem Museum. Um Inspirationsorte der Malerinnen und Maler, die Bildstelen und die eigentlichen Werke miteinander zu vergleichen. Und dabei noch so manche Entdeckung machen zu können zur Dachauer Künstlerkolonie.