Das 45. Filmfestival Max Ophüls Preis widmet die diesjährige „Tribute“-Reihe dem Regisseur und Drehbuchautor Christian Schwochow. Viele seiner Filme erzählen vom Mauerfall und rechtsradikalen Verführungen.
Der 9. November 1989 war in der Familie Schwochow ein besonderer Tag. Denn die Ostberliner bekamen die Genehmigung zur Ausreise in den Westen. Dann aber fiel am gleichen Tag die Mauer. Ausreisen oder wegen der überraschenden Ereignisse bleiben und abwarten, was passieren wird? Die Eltern Schwochow entschieden sich zusammen mit Sohn Christian zum Umzug nach Hannover. Diese turbulente Zeit hat den damals Elfjährigen geprägt. Nach seinem Studium an der Filmhochschule Ludwigsburg wurde er zu einem der wichtigsten deutschen Filmemacher, der seine persönliche Entwicklung und den in Deutschland wachsenden Rechtsradikalismus zu den zentralen Themen seiner Filme macht. Drei seiner Werke zeigt das 45. Filmfestival Max Ophüls Preis und ehrt damit den 45-Jährigen.
Anspruchsvolle Geschichten
Mit dieser Wertschätzung von Schwochows Arbeit schließt sich ein Kreis. Denn bereits Schwochows Spielfilmdebüt „Novemberkind“ feierte seine Uraufführung 2008 auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis. Schon in diesem Spielfilmdebüt thematisierte er das deutsch-deutsche Verhältnis. Der Film und die Auszeichnung mit dem Publikumspreis beim Filmfestival Max Ophüls Preis legten eine Basis für Schwochows anschließende Karriere.
„Die Unsichtbare“ (2011) ist sein zweiter Langfilm. Schwochow beweist erneut ein besonderes Gespür für komplizierte Figuren und erzählt von Schauspielerin Fine. Der Regisseur beleuchtet die Identitätskrise der Bühnenkünstlerin aus verschiedenen Perspektiven, was „Die Unsichtbare“ zu einem stimmigen Drama macht. Auch mit „Paula – Mein Leben soll ein Fest sein“ (2016) legt Schwochow den Fokus auf das Innenleben einer jungen Frau. Das Biopic hat eine leichte Erzählweise, wenngleich die Geschichte anspruchsvoll ist: Es geht um die Malerin Paula Modersohn-Becker (1876–1907). Schwochow blickt aus der heutigen Perspektive auf ihren Kampf um künstlerische und gesellschaftliche Anerkennung. Paulas Konflikt: Sie kann schlicht mit dem Leben als Hausfrau und Mutter nichts anfangen, sie hat einen starken Willen nach persönlicher Freiheit und den Drang, eigene Kunst zu schaffen. Eine Komödie ist „Paula“ trotz einiger schwungvollen Szenen und lockeren Dialogen nicht. Immerhin ist das zentrale Thema die andauernde Unterdrückung von Frauen – und außerdem ist da noch Paulas Weggefährte Fritz Mackensen. Christian Schwochow hätte ihn in seinem Film auch unerwähnt lassen und so Paulas Konflikt weiter in den Vordergrund stellen können. Aber Mackensen entwickelt sich später zum Nazi-Mitläufer, diesen Aspekt der Vorgeschichte zum deutschen Faschismus kann Schwochow nicht ignorieren. Denn mit Filmen wie „Der Turm“ (2012), „Westen“ (2013), „Bornholmer Straße“ (2014), „Die Pfeiler der Macht“ (2016) und „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“ (2016) hatte sich Schwochow schon den Ruf als Fachmann für Filme über die deutsch-deutsche Geschichte erarbeitet.
Im Jahr 2021 drehte Schwochow „Je suis Karl“. „Bei der Recherche ist aufgefallen, dass eine neue Generation an Rechten heranwächst“, sagt der Regisseur. Das Drama erzählt von einer jungen Frau, die einen Terroranschlag erlebt und sich in den charismatischen Anführer einer rechtsgerichteten Revolution verliebt. Die Idee zu „Je suis Karl“ sei ihm gekommen, als er 2013 an dem ARD-Dreiteiler „Mitten in Deutschland“ mitwirkte. Der Film ist ein Blick zurück in die Naziszene, in der Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe ihre Taten noch im Verborgenen geplant haben. Im Gerichtssaal hat Schwochow die Anhänger der Täter beobachtet, „junge, smarte Menschen mit völlig neuen Organisationsstrukturen, mit moderner Symbolik und feschen Slogans“. Diese Entwicklung hat er in „Je suis Karl“ mit einer Liebesgeschichte erzählt – im Mittelpunkt Maxi. Sie ist unangepasst, hat unaufgeräumte Familienverhältnisse, sucht nach Identität – ähnlich den Protagonistinnen in Schwochows vorangegangenen Filmen wie „Paula“ und „Die Unsichtbare“.
„Faszination und Verführungskraft“
In „Je suis Karl“ zeigt Christian Schwochow, wie schnell Trauer, Wut oder Angst den Menschen dazu bringen können, offen zu sein für eine manipulative rechtsextreme Bewegung. Ein wichtiger Film, sagt Schwochow. „Wir finden keinen richtigen Umgang mit AfD und Co. Die Populisten in Europa zu belächeln und ihnen vorzuführen, wie dumm sie vermeintlich sind, ist zu wenig.“ Auch das deutsche Kino sei nicht radikal genug, wenn es um die Rechten in der Gesellschaft gehe. Dazu gehört auch, Schwächen zuzugeben. „Warum sollten wir nicht die Faszination und Verführungskraft zeigen, die Menschen wie Karl haben? Wer sagt denn, dass nicht auch wir ein Stück weit Karls Art erliegen würden?“ Der Film spielt bewusst nicht in der Provinz, in der die Machenschaften der Täter unauffällig blieben, sondern im Berliner Friedrichshain, „wo wir zuhause sind und das Gefühl haben, emotional, moralisch und politisch auf sicheren Füßen zu stehen.“ Und wo er als Elfjähriger mit seinen Eltern lebte, als die Mauer fiel und zeitgleich die Genehmigung zur Ausreise in den Westen ins Haus flatterte.
Nach seinem Umzug nach Hannover konnte Christian Schwochow das Leben der Menschen im deutschen Osten beobachten. Vielleicht hat diese Distanz seinen Blick auf die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen in Berlin und im Osten Deutschlands geschärft. „Mit der Suche nach Orientierung waren viele überfordert. Andere fanden schnell das große Glück“, sagte Schwochow der ARD anlässlich der Ausstrahlung von „Mitten in Deutschland“. Die Ungleichheit zusammen mit modernen Verführungsmöglichkeiten zeigen, wie anfällig die Gesellschaft für rassistisches und rechtsradikales Gedankengut ist. „Mir ist die Angst vor diesen Kräften und ihrer Überzeugungskraft sehr gegenwärtig“, sagt Schwochow.