Kann man ein Jahrhundert sichtbar machen? Kann man im Gesicht erkennen, was im Herzen brennt? Antworten auf diese Fragen liefert das „Lesebuch des Lebens", ein Bildband des Grafikkünstlers und Diplom-Designers Olaf Reeck, der am 23. März in Püttlingen vorgestellt wird.
Hundert Jahre spiegeln sich in den Gesichtern von hundert Menschen. Der Jüngste ist ein Jahr alt, die Älteste stolze 100 Jahre. Über vier Jahre hat Olaf Reeck an seinem Projekt gearbeitet. Es ist das Ergebnis eines Zeichenprojektes, das der 79-Jährige an der Volkshochschule Püttlingen leitet. Die Foto-Porträts – ursprünglich ein Dankeschön für die Zeichenmodelle – sind nun in dem Buch zusammengefasst.
Um zu erklären, wie sich die Idee zum fertigen Buch entwickelt hat, und wie er zur VHS Püttlingen gekommen ist, muss der einstige Plakatmaler und Lehrbeauftragte für Zeichnen an der Fachhochschule für Design weit ausholen: „Ich bin gebürtiger Berliner und lebe seit 1948 im Saarland, seit 1992 im Köllertal. In Saarbrücken habe ich bei Oskar Holweck Grafik studiert." Viele Jahre war er als Designer für ein saarländisches Stahlunternehmen tätig. Von 1986 bis 2003 arbeitete er als Chefdesigner in einer Werbeagentur mit Schwerpunkt Illustration.
Seit seiner Kindheit lebt er für das Zeichnen. Nachdem er in den Ruhestand gegangen war, betätigte er sich freiberuflich. Vor über zehn Jahren hat er sich bei der Stadt Püttlingen als Zeichenlehrer beworben, anfänglich als Zeichendozent an der Werkstatt für Kreatives Gestalten in Püttlingen, mittlerweile an der Volkshochschule.
Besucht werden diese Zeichenkurse nicht nur von Design-Studenten, sondern auch beispielsweise einem pensionierten Bergmann, Bankangestellten, Lehrer oder Mediziner im Alter von 17 bis 72 Jahren. Sieben seiner Schüler hat Olaf Reeck vorbereitet fürs Studium an der Kunstschule.
Ein Dankeschön für die Modelle
„2014 habe ich in den Sommerferien mit meinem Zeichenkurs Landschaften am Köllerbacher Waldesrand gemalt. Mein Blick schweifte über die ‚Köllerbacher Toskana‘. Wer diese Felder und Wiesen wohl in den vergangenen hundert Jahren schon gesehen hat?, fragte ich mich in der lauen Sommerluft. Und in diesem Moment kam mir die Idee, den Lauf des Jahrhunderts in Form von einhundert Porträts festzuhalten." Die ersten zehn Teilnehmer des Buchprojektes fand er unter seinen Zeichenkursteilnehmern. Damit waren zehn Prozent schon geschafft, der Rest sollte auch noch zu finden sein. Doch leichter gesagt als getan. „Dass es ein langwieriges Projekt werden würde, war mir von Anfang an klar. Ich sprach Menschen auf der Straße an, suchte unter meinen Bekannten und startete Aufrufe in den Medien. Selbst bei den Kleinkindern und Jugendlichen dauerte es eine Weile, bis sich Eltern bereit erklärten, ihre Kinder im Alter von eins bis zehn zeichnen zu lassen.
Die Hundertjährige war übrigens eine der ersten, die sich meldete und die mein Kurs zeichnen und ich fotografieren konnte. Nur in einem Fall mussten wir unter sieben Bewerbern aus Eritrea auslosen. Meistens fanden wir nur genau eine Person mit dem entsprechenden Alter.
Am schwierigsten war es, einen 36-Jährigen und einen 99-Jährigen zu finden", erinnert sich Olaf Reeck. In beiden Fällen half der Zufall.
Vor einem Jahr saß er in einem Heusweiler Restaurant. Dem Besitzer Frank Hens erzählte er von seinem Projekt. „Als er hörte, dass ich verzweifelt einen 36-Jährigen suche, meinte er: ‚Im Nebensaal läuft gerade ein Tanzkurs, und wenn mich nicht alles täuscht, ist der
Jochen 36 Jahre alt.‘ Er rief den jungen Mann zu mir an den Tisch, und schwupps war das erste Problem gelöst." Die 99-Jährige vermittelte über Umwege die saarländische Gesundheitsministerin Monika Bachmann. Reeck hielt bei der Seniorenvereinigung Püttlingen einen Vortrag über seine Arbeit und zeigte dabei die Porträts. Dabei erwähnte er, dass er nun alle Altersklassen abgelichtet hätte, nur für das 99. Lebensjahr fehle ihm noch eine Person. „Spontan nannte die Ministerin mir eine 106-jährige Bekannte, die mein Kurs zeichnete. Darüber entstand ein Zeitungsartikel mit dem Aufruf, dass ich noch eine 99-Jährige suche, auf den sich schließlich Irma meldete."
Rolle im Leben gefunden
Für die Modelle war es übrigens gar nicht so einfach, sich zeichnen zu lassen. 20 Minuten still zu sitzen, ist etwas anderes, als ein gemütlicher Fernsehabend auf dem Sofa. „Gerade bei den Kindern mussten wir viel Überredungskunst aufwenden, ihr Temperament zu zügeln. Wobei der Einjährige der Ruhigste unter den Kindern war."
In dem grafisch ansprechend gestalteten Buch sind keine geschminkten Modelle zu sehen, sondern Menschen wie du und ich. Alle Porträts sind im Dreiviertel-Profil abgelichtet, bis auf die Hundertjährige. „Was aber reiner Zufall ist, sie konnte nicht stillsitzen", schmunzelt Olaf Reeck. Alle bis auf wenige Ausnahmen stammen aus Püttlingen. Sieben von ihnen sind mittlerweile verstorben.
Retuschiert wurde höchstens mal ein Pickel, aber weder Lach- noch Sorgenfalten wurden geglättet. Die freigestellten Bilder stehen jeweils solitär auf den Buchseiten.
„Auf eine Gegenüberstellung habe ich bewusst verzichtet, damit der Betrachter jedes Gesicht störungsfrei anschauen kann und nicht zum Vergleichen angeregt wird." Außer dem Vornamen und dem Alter nennt Olaf Reeck keine Einzelheiten über die Personen, keine Hinweise auf soziale Stellung oder Erlebtes. Die Bilder sprechen für sich selbst.
In den Gesichtern spiegeln sich Charakter und Schicksal. „Das Leben hat sie geprägt", erklärt dazu der Köllerbacher Autor Georg Fox, der den Begleittext zu dem Buch geschrieben hat. „Das Leben furcht, faltet und zerknittert die Gesichtshaut, es höhlt sie aus oder plustert sie auf." Das Buch ziele darauf ab, sagt Georg Fox, „das Menschsein an sich im Spiegel seiner Lebensalter darzustellen. In den Gesichtern entdeckt der Betrachter die Erfahrungen einer Lebensreise. Glück und Pech, Zufall und Zielstrebigkeit, Unbekümmertheit und Beharrlichkeit – alles kann man darin lesen."
Die einhundert Portraits zeigen auch Veränderungen in der Namensgebung, Persönlichkeitsentwicklung und der ethnischen Zusammensetzung der Stadt Püttlingen im Laufe der Jahre. Die Kleinkinder blicken unbeschwert in die Kamera und heißen Vico, Murat, Zeinab oder Shirin Leila. Wo kommen sie her? Was hat sie ins Saarland geführt?
Die Jugendlichen lassen eine gewisse Unsicherheit erkennen ob ihrer noch nicht abgeschlossenen Ich-Findung. Hier tauchen moderne Namen wie Nicolas, Julius, Lukas, aber auch Prescious oder Yunus auf. Die jungen, erwachsenen Porträtierten haben schon ihre Persönlichkeit entwickelt, sie posieren gern vor der Kamera. Namen, wie Kerstin, Lena oder Regina stehen stellvertretend für diese Generation.
Bei den Älteren erkennt man, dass sie ihre Rolle im Leben gefunden haben und sich ihrer selbst sicher sind. Claudia, Andreas, Christine waren typische Namen dieser Zeit. Auch in der Generation 40plus finden sich Namen wie Daalej oder Minoti.
Bei Gudrun, Reimund, Hans-Joachim oder Walter, den Senioren von 60plus, spürt man, wie das Leben die Gesichtszüge geformt hat und bei Alois, Hermann, Alwine, Erika oder Adelheit, Vertreter der Generation 80plus, fragt man sich, welche Folgen Krieg, Vertreibung, Entbehrungen, aber auch Dankbarkeit und Verbundenheit mit der neuen Heimat auf ihr Äußeres hatten.
Manchem Betrachter werden sich sicherlich auch Fragen aufdrängen, was aus den jungen Menschen noch werden wird, und was so manch Älterer erlebt hat? Vergleichbares mit dem eigenen Leben?
Das „Lesebuch des Lebens" regt an, sich mit den Porträtierten und mit sich selbst auseinanderzusetzen. Einfach spannend. Olaf Reek hofft, „dass es mir mit dem Buch gelungen ist, einen Knoten, wenn auch bescheiden klein, in den Faden der Zeit geknüpft zu haben."