Ursprünglich war mit ihnen ein verspielt-puppenhafter Charme verbunden. Doch die neuen Mary Janes haben flache Sohlen und abgerundete Zehenkappen zugunsten von Heels und Spitze hinter sich gelassen. Nur das Riemchen über dem Spann ist als klassisches Merkmal erhalten geblieben.
Mary Janes waren im Sommer und sind auch jetzt im Herbst noch überraschenderweise der Schuhmoden-Trend Nummer eins. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass diese in ihrer Ursprungsgestalt geradezu niedlichen (Ballerina-) Schühchen als absolut untragbar für moderne, fashionaffine Frauen angesehen wurden und höchstens die Füße kleiner Mädchen zieren sollten. Auch das ihnen traditionell anhaftende Gouvernanten- und Sekretärinnen-Image schien für ein Fashion-Comeback nicht gerade förderlich. Da stellt sich natürlich sofort die Frage nach den Hintergründen des gravierenden Meinungsumschwungs.
Das charakteristische Hauptmerkmal der Mary Janes ist das über den Fußspann verlaufende Riemchen, das seitlich mit einer geknöpften Ristspange befestigt ist. Deshalb werden sie zu den Spangenschuhen gezählt. Nach langer Absenz waren sie im Sommer 2019 wieder auf den Laufstegen aufgetaucht. Und zwar mehr oder weniger in der puppenhaften Originalvariante vom Beginn des 20. Jahrhunderts mit runder Kappe und fast ohne Absatz. Vor einem Jahr eigentlich kein Grund, gleich in Ekstase auszubrechen. Aber da die Schuhe nun mal von keinem Geringeren als Karl Lagerfeld aus der Versenkung geholt und in der Chanel Cruise Collection präsentiert wurden, wurde davon in der Fashionwelt doch etwas Kenntnis genommen. Während die goldenen Flats im Mary-Janes-Stil von Bottega Veneta vom Sommer 2018 oder die Mary-Janes-Ballerinas in Lackoptik von Miu Miu der Wintersaison 2018/2019 noch weitgehend unterhalb des Fashion-Radars geblieben waren.
Hauptmerkmal ist erhalten geblieben
Kaiser Karl hatte die Mary Janes in einem offiziellen Statement als „Partyschuhe für Kinder" bezeichnet. Kein Wunder, dass die Schuhe im Französischen noch immer unter dem Namen „Babies" geläufig sind. Die Chanel-Schuhe kamen wahlweise aus weißem Kalbsleder oder aus silberfarbenem Ziegenleder daher, waren teils mit Pailletten geschmückt oder mit einer sportiven Gummisohle aufgehübscht. Ähnliche Modelle waren bereits kurz zuvor in den Sommerkollektionen von Burberry, Prada oder Miu Miu aufgetaucht und wurden von Highstreet-Labels wie Mango aufgegriffen. „Harpers Bazaar" fühlte sich aufgrund dessen zu folgendem Kommentar veranlasst: „Entscheidend bei diesem Schuh-Trend ist der brav hübsche Look mit runder Kappe und dezentem Absatz, ohne zickige Spitze oder scharfem Killer-Heel." Um den „Kleinmädchen-Charme der Schuhe" zu unterstreichen, riet das Magazin seinen Leserinnen dem Chanel-Catwalk-Beispiel folgend zu „unschuldig weißen Strumpfhosen" als Kombi-Partner zu Sommerkleid oder Tweed-Kostüm.
Vermutlich wäre es das mit den Mary Janes dann schon wieder gewesen, wenn die Designer dem von „Harper’s Bazaar" als verbindlich vorgezeichneten Gestaltungspfad gefolgt wären. Das taten sie aber nicht, sondern verpassten den Schuhen aus Lack, Leder oder Samt in der Wintersaison 2019/2020 einen mehr oder weniger hohen Absatz und entschieden sich teilweise auch schon für die „zickige Spitze".
Es gibt auch Paare mit Platform-Absatz
Für den gerade zu Ende gegangenen Sommer haben eine ganze Reihe von Labels dann noch einen draufgesetzt und die Mary Janes endgültig als perfekte Alternative zu traditionellen Sandalen oder Pumps etabliert, indem sie die Schuhe gar mit ultra-dünnen Stilettos ausstaffiert hatten (Jason Wu, Gucci, Marc Jacobs, Masion Margiela oder Carolina Herrera). Das Gehen kann auf diesen himmelhohen Hacken dank des besonders guten Halt gebenden Riemchens durchaus bequem sein. Dass die Mary Janes auch mit einer mächtigen Plateausohle eine gute Figur abgeben können, hat aktuell Miu Miu mit einem originellen Modell in glänzendem Weiß nachdrücklich bewiesen. Auch Dries Van Noten hat ein mit bunten floralen Motiven geschmücktes Platform-Paar in seiner Kollektion. Was Schmuckdetails oder Muster betrifft, so haben einige Labels die traditionellen Pailletten hinter sich gelassen und bieten so ziemliche alle Alternativen von Leo (The Alina oder ASOS) oder Brokat (Dries Van Noten) über Kroko (Prada) oder Kristallüberzug (Miu Miu) bis hin zu Karo-Print (Jason Wu). Auch bei Farben oder Materialien hat frau die Qual der Wahl, von Satin (Rochas) oder Lackleder (Prada) über Wildleder (The Alina) bis hin zu mit Lammfell überzogenen Modellen (Marc Jacobs).
Verblüffend ist, dass offenbar noch niemandem in der medialen Fashionszene aufgefallen ist, dass die Designer in Sachen Mary Janes innerhalb eines Jahres quasi in einem sich über gerade mal drei Saisons hinziehenden Kreativ-Schnelldurchlauf all jene Fortentwicklungen des Modell-Klassikers der letzten 60 Jahre geballt zusammengefasst haben. Das ist Grund genug, mal einen kurzen Blick auf die Geschichte der Schuhe zu werfen. Vorläufer reichen bis in die Renaissancezeit zurück, als Riemenschuhe vor allem von Herrschern wie König Heinrich VIII. von England getragen wurden.
Ende des 19. Jahrhunderts tauchten dann die ersten Ballerina-ähnlichen Modelle im Stil der Mary Janes auf, damals noch „Bar-Shoes" genannt, die zunächst vornehmlich als neue Fußbekleidung von Jungen beliebt waren, aber zunehmend auch in Mädchenkreisen Eingang fanden. Populär wurden die Schuhe dann durch den US-amerikanischen Comic-Zeichner Richard Felton Outcault gemacht, der in seiner zwischen 1902 und 1906 im „New York Herald" erschienenen Erfolgsserie „Buster Brown" sowohl die Hauptfigur als auch dessen Freundin, die nach Outcaults Schwester Mary Jane benannt worden war, in den süßen Schühchen dargestellt hatte. 1904 verkaufte Outcault die Lizenz- und Marketingrechte für die „Buster Brown"-Charaktere an die in Missouri ansässige Brown Shoe Company, die wenig später als Comicfiguren verkleidete Schauspieler auf PR-Touren durchs Land schickte, um die von den Künstlern an den Füßen getragenen Schuhe zu verkaufen, für die bald der Name „Mary Janes" gebräuchlich werden sollte.
Zunächst blieben Kinder die Hauptzielgruppe für die flachen Schuhe. Doch in den 1920er-Jahren fanden sie dank der Charleston- und Flapper-Girls mit kunstvoll verzierten Modellen aus Satin auch Eingang in die Damenwelt. Auch Künstlerinnen wie Sonia Delauney, die sich schon Schuhe mit kleinem Absatz anfertigen ließ, oder die Modekönigen Coco Chanel kürten sie zu jener Zeit zu ihren Schuh-Favoriten. In den 1930er-Jahren verabschiedete sich das männliche Geschlecht weitgehend von den Mary Janes, obwohl noch 1963 der kleine John F. Kennedy Junior am Grab seines ermordeten Vaters in diesen Schuhen zu sehen sein sollte. 1934 hüpfte die junge Shirley Temple in weißen Schuhen durch den Kinofilm „Baby Takes a Bow".
Erst in den 1960er-Jahren schafften die Schuhe den Durchbruch in der femininen Erwachsenenwelt. Das war das Verdienst der Designerin Mary Quant, die das Model Twiggy in schwarzen Mary Janes auftreten ließ und damit den Lolita-Look auf den Laufstegen einführte. Designer-Kollegen wie André Courrèges, Yves Saint Laurent oder Christian Dior wandten sich ebenfalls den Mary Janes zu und veränderten deren Aussehen leicht durch Hinzufügen eines winzigen Absatzes und durch Abwandlung der runden Kappe Richtung schrägem Zuschnitt. In den 1990er-Jahren sollte die Protagonistenrolle vor allem von US-Rocksängerin Courtney Love übernommen werden, die in den Nullerjahren, als vor allem Mary Janes mit Blockabsatz angesagt waren, von Model und It-Girl Alexa Chung abgelöst werden sollte.
Dank dem Einzug in Subkulturen wie Punk oder der Goth-Szene erlebten die Mary Janes ab den 1990er-Jahren ein gewisses Revival. Sängerin Fergie hatte den Schuhen 2006 mit ihrem Song „Mary Jane’s Shoes" sogar ein Pop-Denkmal gesetzt.