Doping- oder auch Drogenbeichten gab es schon viele im weltweiten Spitzensport. Die Offenbarung des britischen Leichtathletik-Stars Mo Farah aber ist besonders, hinter seiner Lebenslüge steckt eine traurige Kindheitsgeschichte.
Bei seinen großen Siegen wollte Mo Farah immer ganz nah bei seiner Familie sein. Während das Publikum vor Begeisterung einen Höllenlärm veranstaltete, die Fotografen ihn umzingelten und die geschlagenen Konkurrenten ehrfürchtig gratulierten, ließ sich der britische Langstreckenläufer oft nur widerwillig feiern. Er alleine fühlte sich in diesen Momenten nie wohl, nie wirklich komplett. Erst als er seine Frau Tania Nell, seine Adoptivtochter Rhianna und die gemeinsamen Zwillinge Amani und Aisha zu sich auf die Tartanbahn holte, konnte Farah den Trubel um seine Person auch genießen.
Solche Szenen hat die Leichtathletik-Szene aber schon lange nicht mehr gesehen, Farahs letzten großen Siege liegen schon eine Weile zurück. Die Zwillinge werden im August zehn Jahre alt, das Nesthäkchen Hussein wurde 2015 geboren. Die Fragen der Kinder werden komplexer, die Antworten für den Vater schwieriger. Vor allem, wenn man wie er seit langer Zeit mit einer Lebenslüge lebt. Der viermalige Olympiasieger hat nun entschieden, mit eben jener aufzuräumen und die Wahrheit zu erzählen. Für seine Familie, für seinen Seelenfrieden.
„Familie bedeutet mir alles, und als Eltern bringt man seinen Kindern bei, ehrlich zu sein. Aber ich fühlte immer, dass ich dieses Geheimnis hatte, nie ich selbst sein und erzählen konnte, was wirklich geschehen war", sagte der 39-Jährige in der BBC-Dokumentation „The Real Mo Farah", und er gestand: „Die Wahrheit ist, dass ich nicht der bin, für den Sie mich halten. Die meisten kennen mich als Mo Farah, aber das ist nicht mein Name, das ist nicht die Wirklichkeit."
„Das ist nicht die Wirklichkeit"
Wer der echte Mo Farah ist, weiß der Leichtathletik-Star nicht. Er habe dessen Identität einst als Kind übernommen und könne nur hoffen, dass es ihm gut gehe. Was sich zunächst nach einem üblen und kriminellen Identitäts-Klau anhört, ist in Wirklichkeit Teil einer erschütternden Kindheitsgeschichte über Krieg, Armut, Menschenhandel und Sklaverei. Farah, der 2017 wegen seiner Verdienste um das Königreich von Queen Elizabeth II. zum Ritter geschlagen wurde, geht mit seiner Beichte auch deshalb an die Öffentlichkeit, weil er auf die Missstände aufmerksam machen will. Und um den Menschen, die wie er davon betroffen sind, zu zeigen, dass man sich aus diesem Sumpf irgendwie herausziehen kann. „Was mich wirklich gerettet hat, was mich anders gemacht hat, war, dass ich rennen konnte", sagte er.
Doch dieses Ausnahmetalent, das ihm den sozialen Aufstieg bescherte, zeigte sich erst später. Zuerst musste Hussein Abdi Kahin, wie Farah mit Geburtsnamen heißt, durch die Hölle. Im Somaliland geboren lebte er in großer Armut und in ständiger Angst. Dem stets präsenten Bürgerkrieg fiel sein Vater zum Opfer, wenig später wurde er von seiner restlichen Familie getrennt. Über das ostafrikanische Land Dschibuti sei er im Alter von acht oder neun Jahren von einer Frau illegal nach Großbritannien gebracht worden, verriet der Sportler in der Dokumentation, „unter dem Namen eines anderen Kindes." Als Mohamed Farah.
Seine spätere Angabe, seine Eltern hätten im Vereinigten Königreich gelebt – eine Lüge. Jene Frau habe ihn mit dem Versprechen geködert, in England bei seinen Verwandten unterkommen zu können. Er sei „begeistert" gewesen, schließlich „war ich noch nie zuvor in einem Flugzeug gewesen". Doch die Freude schlug nach der Landung schnell in Grauen um. Die vermeintliche Lebensretterin entpuppte sich als skrupellose Menschenhändlerin. Sie habe ihn in ihre Wohnung im westlichen Londoner Bezirk Hounslow gebracht, dort den Zettel mit den Kontaktdaten der vermeintlichen Verwandten zerrissen und in den Mülleimer geworfen. „Direkt vor meinen Augen", berichtete der sechsmalige Weltmeister: „In dem Moment wusste ich, dass ich in der Klemme sitze."
Statt in ein neues, selbstbestimmtes Leben voller Chancen aufzubrechen, wurde der Afrikaner nach eigenen Aussagen quasi versklavt. Er habe auf die Kinder anderer Familien aufpassen und als Haushaltshilfe arbeiten müssen, um sich sein Essen zu verdienen, erzählte er. Zur Polizei sei er nicht gegangen, weil er eingeschüchtert wurde. Er würde seine Familie nie wiedersehen, habe er als Kind immer wieder von jener Frau zu hören bekommen. Anfangs sei er nicht mal in die Schule gegangen, erst im Alter von zwölf Jahren habe er die siebte Klasse des Feltham Community College besuchen dürfen. Vorgestellt wurde er dort als ein Flüchtling aus Somalia.
Sport als Schlüssel zur Freiheit
Er sei „ungepflegt" zum Unterricht erschienen, erzählte seine ehemalige Klassenlehrerin Sarah Rennie der BBC. Sein englischer Wortschatz sei rudimentär gewesen, sie habe den verschüchterten Jungen als ein „emotional und kulturell entfremdetes Kind" wahrgenommen. „Die einzige Sprache, die er zu verstehen schien, war die Sprache von Sport", verriet sein damaliger Sportlehrer Alan Watkinson. Der Sport sollte Farahs Schlüssel zur Freiheit werden. „Das Einzige, was ich tun konnte, um aus dieser Lage herauszukommen, war, rauszugehen und zu rennen", erklärte der Ausnahmeathlet seine frühe Besessenheit für das Laufen. Zu seinem Sportlehrer entwickelte er eine enge Bindung, und schließlich vertraute er sich ihm an. Watkinson alarmierte den Sozialdienst und half auch später bei der Suche nach einer Pflegefamilie mit.
„Ich hatte das Gefühl, dass mir vieles von den Schultern genommen wurde, und ich fühlte mich wie ich selbst", erinnerte sich Farah zurück: „Da kam Mo zum Vorschein – der wahre Mo." Sein neues Zuhause war bei einer somalischstämmigen Familie, hier fühlte er sich geborgen, hier fand er die Unterstützung, um seinen Weg zu gehen. „Ich habe noch immer meine echte Familie vermisst", sagte er, „aber von diesem Moment an wurde alles besser."
In neuer Lebensumgebung blühte der Junge auf. Und sobald er seine Laufschuhe anzog und losrannte, fühlte er sich ohnehin frei und glücklich. Sein Talent wurde schnell sichtbar, er lief bei großen Schulmeisterschaften des Landes vorneweg und heimste Titel um Titel ein. Das zog das Interesse von Förderern und Sponsoren hervor, sie begannen, viel Geld in seine sportliche Ausbildung zu stecken. Als er eines Tages in Lettland bei einem Ländervergleich für die englischen Schulen antreten sollte, fiel auf, dass er keinen Reisepass besitzt. Und wieder stand ihm sein Sportlehrer Watkinson zur Seite, er half beim Antrag für die britische Staatsbürgerschaft. Die darf Farah trotz seines Geständnisses behalten. Das Innenministerium ließ verlauten, dass „keinerlei Maßnahmen gegen Sir Mo" ergriffen werden. Strafrechtliche Konsequenzen könnte seine Beichte dennoch haben. Die britische Polizei nahm Ermittlungen auf und prüft mögliche Straftaten in diesem Zusammenhang.
Weltweit sorgte der Fall für Aufsehen, die höchsten Wellen schlug er natürlich in England. „Mo Farahs unglaubliche Beichte", titelte der „Daily Express", für die „Daily Mail" war die Enthüllung schlichtweg „eine Sensation". Farah selbst ist froh, dass er sein Gewissen erleichtern und endlich die Wahrheit sagen konnte. Für seine Familie, aber auch für sich. „Oft habe ich mich einfach im Badezimmer eingeschlossen und geweint", sagte er: „Jahrelang habe ich es einfach verdrängt, aber man kann es nur eine gewisse Zeit lang verdrängen."
Seine vier Olympiasiege (2012 und 2016), seine sechs WM- und acht EM-Titel werden durch die Offenbarung seiner Lebenslüge in der Szene nicht geschmälert. Im Gegenteil. Dass er mit dieser schweren Bürde trotzdem zu Höchstleistungen fähig war, machen seine großen Triumphe umso bemerkenswerter. „Der Mann, der Schweiß zu Gold macht", schrieb die „NZZ" einmal über Mo Farah. Das gilt nun umso mehr. Trotzdem darf man gespannt darauf sein, wie ihn die Engländer empfangen, wenn Farah wie angekündigt beim London-Marathon im Oktober startet.
Verzicht auf die WM in den USA
Und was ist sportlich von ihm noch zu erwarten? Wegen eines Ermüdungsbruchs im Fuß hatte er das Ticket für Olympia verpasst, auf die WM in Eugene/USA in diesem Sommer verzichtet der Laufstar aufgrund fehlender Topform. Das schmerzte ihn sehr, schließlich hatte er nicht weit weg vom WM-Ort unter Startrainer Alberto Salazar von 2010 bis 2017 trainiert und dort die Grundlagen für all seine großen Siege geschaffen. „Als Athlet willst du Wettkämpfe bestreiten, aber man muss auch realistisch sein", sagte Farah und fügt hinzu: „Du bist Weltmeister geworden, du hast Medaillen gewonnen – musst du da dann da hingehen, nur um irgendeine Nummer zu sein?" Er könne in den USA nicht um Gold mitlaufen, deswegen sei er die Qualifikation auch nicht ernsthaft angegangen.
Es war ohne Zweifel eine gute Entscheidung. Als er im Mai bei einem 10.000-Meter-Lauf sensationell von Amateurläufer Ellis Cross geschlagen wurde, schlossen Experten sogar einen Rücktritt nicht mehr aus. Doch davon will Farah (noch) nichts wissen. In London läuft er seinen ersten vollen Marathon seit 2019. „Ich kann es kaum erwarten, wieder da rauszugehen, mich mit den besten Marathonläufern der Welt zu messen und die Begeisterung und die fantastische Atmosphäre zu genießen, die London am Marathontag schafft", sagte Farah. Er hält seit 2018 den britischen Marathon-Rekord (2:05,11 Stunden), in diesen Bereich will er irgendwann wieder laufen. „Ich habe noch immer diesen Hunger und den Willen", sagte Farah, „ich habe diesen Kampf immer noch in mir." Sich aus schweren Situationen herauszukämpfen, das hat Hussein Abdi Kahin alias Mohamed Farah in seinem Leben gelernt. Wie schnell auch immer er demnächst auf der Tartanbahn oder der Straße unterwegs sein wird: Die Last einer Lebenslüge liegt nicht mehr auf seinen Schultern.