Einzig die Sprint-Staffel der Frauen und Goldmädchen Malaika Mihambo polierten die miese Bilanz des deutschen Teams bei der Leichtathletik-WM auf. Der Fokus vieler Sportler schien bereits auf die Heim-EM in München gerichtet gewesen zu sein.
Viel hatte nicht gefehlt, und die Weltmeisterschaften in Eugene wären für die deutschen Leichtathleten endgültig zu einer Voll-Katastrophe geworden. Als letzte Hoffnungsträgerin auf Gold war Weitspringerin Malaika Mihambo ins traditionsreiche Hayward Field eingelaufen, aber die Titelverteidigerin schien sich nahtlos in die größtenteils miserablen Leistungen des DLV-Teams einzureihen. Nach Übertretungen in den ersten beiden Versuchen hätte ein dritter ungültiger Sprung schon das Aus der Olympiasiegerin bedeutet, die Bilanz des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) wäre noch verheerender ausgefallen. Der Druck war enorm, aber Mihambo lieferte. Ihr Sicherheitssprung auf 6,98 Meter bescherte ihr drei weitere Versuche und gab ihr neues Selbstvertrauen.
Am Ende jubelte sie mit einer Siegerweite von 7,12 Meter über Gold – und die DLV-Verantwortlichen atmeten erleichtert auf. „Da ist immer Drama dabei", sagte Mihambo über den nervenaufreibenden Weitsprung-Krimi, der sogar noch spannender war, als es die wenigen deutschen TV-Zuschauer vor dem Fernseher erahnen konnten. Denn Mihambo hatte sich beim dritten Versuch am Rücken verletzt, „vielleicht eine Zerrung", wie sie direkt nach dem Wettbewerb vermutete. „Ich hatte dann auch Schmerzen, und es wurde alles auch etwas anstrengender", erzählte die 28-Jährige. Doch sie biss auf die Zähne, zu viel stand auf dem Spiel. Für sie, aber auch für das gesamte deutsche Team. „Ich habe eigentlich nicht an mir gezweifelt, ich habe mich beruhigt", berichtete Mihambo: „Ich traue mir das einfach zu, auch in solchen Krisensituationen da zu sein."
Das ist sicherlich auch ein Grund, warum sich Deutschlands Sportlerin der Jahre 2019, 2020 und 2021 nicht von der Krisenstimmung rund um das DLV-Team hat verrückt machen lassen. Vor Mihambo war lediglich die 4x100-Meter-Staffel der Frauen aufs Podest gestürmt, das Quartett mit Tatjana Pinto, Alexandra Burghardt, Gina Lückenkemper und Rebekka Haase holte am vorletzten Wettkampftag überraschend Bronze. Ansonsten waren die DSV-Athleten der Weltspitze meist hoffnungslos unterlegen und sorgten für das schlechteste deutsche WM-Abschneiden in der Geschichte. Bislang war Paris 2003 mit vier Medaillen der Tiefpunkt gewesen. Spöttische Zungen behaupteten gar, es sei ein Segen gewesen, dass die Wettkämpfe aufgrund der Zeitverschiebung in Deutschland mitten in der Nacht liefen und daher kaum gesehen wurden.
„Das haben wir so nicht erwartet"
„Wir sind mit dem Abschneiden unserer Athleten nicht zufrieden", sagte Cheftrainerin Annett Stein, die die miese Bilanz auch nach dem Mihambo-Gold nicht schönreden wollte: „Wenn ich auf die Leistung der Athleten schaue, muss ich feststellen, dass 40 bis 45 Prozent der hier angereisten Athleten ihr Leistungsvermögen nicht abrufen konnten." Die Statistik gibt ihr Recht: Von den 80 bei der WM gestarteten DLV-Athleten schieden 46 bereits in der Vorrunde aus. Medaillenhoffnungen wie Konstanze Klosterhalfen (19. über 5.000 m), Gesa Felicitas Krause (15. über 3.000 m Hindernis), Kristin Pudenz (11. im Diskuswerfen) und Julian Weber (4. Im Speerwerfen) erfüllten die Erwartungen nicht. Die meisten von ihnen waren von ihrer Topform von Olympia in Tokio oder der WM 2019 in Doha weit entfernt. „Wir müssen jetzt herausfinden, woran es lag", sagte die bitter enttäuschte Klosterhalfen: „Im Moment kann ich es mir nicht erklären." Auch Krause kämpfte mit den Tränen und meinte: „Das ist nicht mein Anspruch. Meine Träume sind viel größer." Zur Hälfte der Titelkämpfe deutete vieles sogar auf ein noch grausameres Debakel hin, zu diesem Zeitpunkt war Platz zehn von Stabhochspringerin Jacqueline Otchere die beste Platzierung aus deutscher Sicht gewesen. „Das haben wir so nicht erwartet", gab Stein zu. Auch DLV-Präsident Jürgen Kessing wollte „nichts schönreden", das Fehlen von Leistungsträgern wie Johannes Vetter, Christin Hussong (beide Speer) und Carolin Schäfer (Siebenkampf) brachte er nicht als Ausrede hervor. Doch zu hart wollte er mit den Sportlern auch nicht ins Gericht gehen. „In der Theorie hat alles gut funktioniert", sagte er, „aber der Faktor Mensch ist schwer zu greifen."
Der Blick auf den Medaillenspiegel, bei dem Deutschland (einmal Gold, null mal Silber, einmal Bronze) nur den 19. Platz belegt und von Leichtathletik-Übermacht USA (13,9,11) meilenweit abgehängt wurde, überrascht Kessing keineswegs: „Wir haben nicht allzu viele Medaillenkandidaten." Doch der Verbandsboss betonte, dass Deutschland nicht für immer den Anschluss an die Weltspitze verloren habe. Man arbeite „mit Hochdruck daran, das abzustellen". Die Heim-Europameisterschaften in München (15. bis 21. August) kommen daher wie gerufen. Ohne die Topstars aus den USA, Jamaika, Kenia und anderen Leichtathletik-Nationen wird es für die deutschen Athleten deutlich einfacher, Final- und sogar Podestplätze zu erreichen.
Doch für das Abschneiden bei der WM in Eugene schien die nahende Heim-EM ein Hindernis zu sein. „Viele wissen im Hinterkopf, dass in diesem Jahr noch ein zweiter internationaler Wettkampf ist", sagte Diskuswerferin Claudine Vita, „und vielleicht wären die Ergebnisse besser gewesen, wenn die WM der einzige Höhepunkt gewesen wäre." So gab zum Beispiel Hochspringer Mateusz Przybylko nach seinem zwölften Platz freimütig zu, dass er die WM nur „als Zwischenetappe" gesehen habe und sich „mehr auf München" freue.
Zwei Top-Events in so kurzer Zeit – das ist für die meisten DLV-Sportler ganz offensichtlich nicht zu stemmen. „Das zeigt definitiv, dass wir in den nächsten Jahren ein bisschen aufholen müssen", sagte Vita, die WM-Rang fünf belegte: „Ich hoffe, dass wir es in München als Team besser machen können." Das hofft auch Cheftrainerin Stein, die zugeben musste, dass die EM in den Köpfen der WM-Starter „doch sehr präsent" gewesen sei. Alle würden sich ein ähnliches Highlight wie bei der Heim-EM 2018 in Berlin „herbeisehnen", berichtete Stein, entsprechend sei der Fokus in der Trainingssteuerung oft stärker auf den August als auf den Juli ausgerichtet gewesen. Zwangsläufig kommt die Frage auf, warum der Verband dann mit einem so großen Kader zur WM fliegen musste. Diese Frage dürfte sich angesichts der hohen Reise- und Unterkunftskosten auch der Geldgeber, das Bundesinnenministerium, stellen.
Sportlern ohne realistische FinalChance tue man „mit einem Start auf dieser großen Bühne doch keinen Gefallen", kritisierte Hochsprung-Olympiasiegerin Ulrike Nasse-Meyfarth in der „Welt am Sonntag": „Misserfolgserlebnisse sind nicht nur deprimierend, sondern können auch eine Karriere beenden, bevor sie begonnen hat." Niemand sei in die USA geflogen, um dort „eine schlechte Leistung abzuliefern", versicherte Stein, „aber die Leute sind auch realistisch und wissen, dass sie noch eine zweite Chance haben."
Wer aber mit dieser Mentalität an den Start geht, hat schon verloren – glaubt zumindest Frank Busemann. Der frühere Olympiazweite im Zehnkampf weiß: „Wer auf einmal ein Hintertürchen hat, einen Plan B, der ist ja nicht mit 100 Prozent dabei, sondern nur mit 98." Und was dieser Unterschied im Spitzensport bedeute, „weiß jeder", so Busemann.
Hinzu kam auch viel Pech, wie etwa die Innenbahn für die aussichtsreiche Männer-Sprintstaffel, weil der Weltverband das Setzsystem für die Vorläufe kurzfristig geändert hatte. Am Ende verpasste das DLV-Quartett das Finale aber auch wegen zweier verpatzter Wechsel. „Die Deutschen müssen irgendwie Glück in der Liebe haben, weil es im Spiel scheinbar immer gegen sie läuft", schrieb Busemann in seiner Sportschau-Kolumne wegen der vielen Ereignisse aus der Rubrik „Pleiten, Pech und Pannen": „Wer macht den Köpper in den Wassergraben? Wer verknackst sich vor dem Speerwurf den Rücken? Wer macht bei der Anfangshöhe jeweils einen Knoten in die immer härter werdenden Stäbe? Wer bekommt in der Staffel Bahn eins? Wer bekommt beim ESC null Punkte? Germany."
Scharfe Kritik von Busemann
Doch alles nur auf die Umstände zu schieben sei viel zu einfach, betonte der ARD-Experte. „Die Opferrolle zu übernehmen", schrieb Busemann, „ist eine dankbare Exitstrategie für Underperformance." Der 47-Jährige bemühte ein Zitat von Albert Einstein, um zu verdeutlichen, dass die Ausreden im deutschen Team ein Problem gewesen seien: „Halte dich von Leuten fern, die für jede Lösung ein Problem haben." Gefragt sind nun Leute, die für jedes Problem eine Lösung haben.
So wie Malaika Mihambo. Die Weitsprung-Königin überwand alle widrigen Umstände, meisterte die große Herausforderung der Titelverteidigung und hielt dem enormen Druck stand. „Es ist schwer genug, Weltmeisterin zu werden. Den Titel erfolgreich zu verteidigen, ist aber das, was es ganz besonders macht", sagte sie und ergänzte: „Das ist die Königinnen-Disziplin."
Schon in Doha war sie auf den WM-Thron gestürmt, bei Olympia in Tokio hatte sie Gold im letzten Versuch gesichert. Wer so viel gewonnen hat und dennoch hungrig und motiviert auf weitere Siege bleibt, ist eine ganz Große ihres Sports. Ein Grund für den Triumph war diesmal ihre Grundschnelligkeit, auf der Mihambo in der Saisonvorbereitung viel Wert gelegt hatte. „Ich bin im Sprint deutlich stärker als die letzten zwei Jahre", erklärte sie, „und kann wieder an 2019 anknüpfen."
Das traf aber auf die Wenigsten im deutschen Team zu, neue Stars sind auch nicht in Erscheinung getreten. Mihambos Gold „hübscht die Bilanz etwas auf", meinte DLV-Präsident Kessing, „aber das grundsätzliche Problem ist damit auch nicht gelöst."