Nach der Niederlage des Supermittelgewichtlers Tyron Zeuge im Juli stellt Deutschland keinen Boxweltmeister mehr. Letztmals gab es ein solches sportliches Desaster vor 14 Jahren. Das Profi-Boxen hierzulande steckt tief in der Krise.
Der 38 Jahre alte ehemalige Boxweltmeister Arthur Abraham hatte Mitte Juli sämtlichen Spekulationen um ein mögliches Karriereende den Boden entzogen und verkündet, dass er im Oktober dieses Jahres und im Frühjahr 2019 in den Ring steigen wolle, um nochmals einen WM-Titel zu gewinnen. „Ich will als Champion zurücktreten", so Abraham, „Dafür werde ich alles tun." Vor zwei Jahren war der gebürtige Armenier und Supermittelgewichtler als Titelträger des Weltverbandes WBO vom Mexikaner Gilberto Ramirez entthront worden. Nach der peinlichen Niederlage im Sommer 2017 gegen den Briten Chris Eubank in der Londoner Wembley-Arena war allgemein davon ausgegangen worden, dass das letzte prominente Aushängeschild des Sauerland-Boxstalls seine Handschuhe an den Nagel hängen würde.
Doch Abraham machte weiter und ließ sich in seinen Ambitionen auch nicht von seiner mehr als bescheidenen Leistung im April 2018 beim Sieg über den sichtlich überforderten Dänen Patrick Nielsen abbringen.
Dass hierzulande überhaupt noch jemand Notiz vom Comeback-Versuch des Altstars nimmt, der seit der „Blutschlacht von Wetzlar" im September 2006, als er seinen IBM-Weltmeistergürtel im Mittelgewicht trotz doppelt gebrochenem Unterkiefer verteidigen konnte, so etwas wie Kultstatus genießt, ist schon ein deutliches Indiz dafür, dass der deutsche Profi-Boxsport derzeit in einer schweren Krise steckt.
Weil ihm die Vorbilder, die Ausnahmekönner wie auch die finanziellen Förderer ausgegangen sind. Ein Marco Huck wird kaum jemals ein zweiter Axel Schulz werden können, dessen Schwergewichts-Fight Anfang Dezember 1995 gegen den Südafrikaner Francis Botha rekordverdächtige 18 Millionen Deutsche vor den Fernsehern verfolgt hatten – von früheren Legenden wie Max Schmeling ganz zu schweigen. Und doch tönte der frühere Cruisergewichts-Weltmeister im Juni 2018 nach seinem zweiten Ausflugsexperiment ins prestigeträchtige Schwergewicht, dass er beabsichtige, sich an die Spitze der Königsklasse vorzuarbeiten: „Mein Ziel ist es, die Weltspitze zu dominieren."
Vorbilder sind ausgegangen
Dass der 33-Jährige, dem die vollmundigen Sprüche nach seinem ungefährdeten Sieg gegen den türkischstämmigen Aufbaugegner Yakup Saglam über die Lippen kamen, die Klasse haben könnte, um gegen die das Schwergewicht dominierenden Deontay Wilder (USA) oder Wladimir-Klitschko-Bezwinger Anthony Joshua (Großbritannien) bestehen zu können, wagen so ziemlich alle Experten zu bezweifeln. „Im Schwergewicht", so Ex-Champion Graciano Rocchigiani, „hat er in der Weltspitze keine Chance. Die sind zu stark, ein bisschen schwerer, größer, schlagen härter." Ähnlich die Einschätzung von Axel Schulz: „Wenn du einen siehst wie Joshua oder Wilder, da hat er keine Chance." Schon einmal in seiner Karriere hatte sich Huck für den Größten und unbesiegbar gehalten. Nachdem er sechs Jahre lang in 13 Kämpfen den WBO-Titel im Cruisergewicht behauptet hatte, wurde der gebürtige Serbe im August 2015 vom Polen Krzysztof Glowacki windelweich geprügelt.
Vergleichbar ging es im Juli 2018 in der Offenburger Baden-Arena vor gerade mal 600 Zuschauern dem gebürtigen Berliner Tyron Zeuge, der in der fünften Runde seines WBA-WM-Fights im Mittelgewicht von einem Leberhaken seines Gegners, dem Briten Rocky Fielding, unwiederbringlich auf die Matte geschickt wurde. Seitdem stellt Deutschland in den vier großen Welt-Verbänden des Profi-Boxsports WBA, WBC, WBO und IBF keinen Titelträger mehr. Tyron Zeuge war ohnehin größtenteils Insidern ein Begriff, in der breiten Öffentlichkeit ist der 26-Jährige Linksausleger mit einem eher unauffälligen Lebenswandel kaum bekannt.
Schon eher sein Trainer Jürgen Brähmer, der früher neben Abraham beim Sauerland-Boxstall als WBA- und WBO-Champion einer der TV-Quotenbringer war und neben seiner Coaching-Karriere auch noch selbst gelegentlich in den Ring gestiegen ist. Aber von dem fast 40-jährigen Brähmer wird wohl niemand mehr sportliche Erfolge erwarten. „Wir brauchen neue Helden", so Promoter Kalle Sauerland. WBA-Halbmittelgewichts-Weltmeister Jack Culcay gehört wahrscheinlich nicht dazu. Denn nach dessen Niederlage im März 2017 in der Ludwigshafener Friedrich-Ebert-Halle gegen den US-Amerikaner Demetrius Andrade, vor den Fernsehgeräten hatten das gerade mal 350.000 Zuschauer verfolgt, hatte Star-Trainer Ulli Wegner seinen letzten Champion verloren. Ob er mit seinem langjährigen Schützling Arthur Abraham in den nächsten Monaten das erhoffte Ziel des Titelgewinns erreichen kann, bleibt abzuwarten.
In den großen Sendern werden die Kämpfe des Boxteams Sauerland ohnehin nicht mehr zu sehen sein. Als letzte überregionale Fernsehanstalt war Sat 1 drei Jahre lang fester Sauerland-Partner, Ende 2017 ausgestiegen. Seit 2018 ist ein Dreijahresvertrag mit dem Spartensender Sport1 in Kraft. Die Quoten sind seitdem ziemlich mager, dennoch gab sich Kalle Sauerland kämpferisch: „Das Boxen muss zurückschlagen. Der Sport ist seit Jahren nicht mehr gesund." Auch eine ganze Reihe von Promis erwartet für die nähere Zukunft keine Wende zum Positiven für den deutschen Profi-Boxsport. Ex-Weltmeister Henry Maske: „Das Boxen tritt seit geraumer Zeit nicht mehr überzeugend auf. Der Zuschauer hat uns eine klare Antwort gegeben. TV-Quoten unter zwei Millionen sind kein gutes Argument … Das Boxen rückt wieder in die Schmuddelecke, wo es vor 1990 schon einmal war." Oder Graciano „Rocky" Rocchigiani: „Es wimmelt von völlig sinnlosen Titelkämpfen, es wimmelt von Pseudo-Champions, die früher bei einer Amateurmeisterschaft die erste Runde nur mit einem Freilos überstanden hätten."
Keine Chance für Marco Huck?
Ein Nachwuchsproblem wird man dem deutschen Profi-Boxen nicht unbedingt attestieren können. Schließlich sind in letzter Zeit viele der besten Amateur-Fighter ins Profi-Lager gewechselt, beispielsweise Leon Blum, Denis Radovan, Albon Perzivaj, Araik Marutjan, Emir Ahmatovi, Tom Schwarz oder Serge Michel. Aber als Rohdiamant hat sich bislang noch keiner der Genannten präsentieren können, auch nicht der schon etwas länger im Geschäft tätige Vincent Feigenbutz. Ob sie wesentlich mehr sportliche Erfolge erzielen können als beispielsweise Robin Krasniqi oder Jürgen Doberstein, ist noch ungewiss. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass derzeit (fast) kein deutscher Champion das Zeug oder das boxerische Niveau hat, um mit der internationalen Spitze mithalten zu können.
Das muss man wohl oder übel so akzeptieren und versuchen, möglichst schnell den Weg aus der Talsohle wieder hinauszufinden. Die Zahl der Kampfabende ist hierzulande vergleichsweise hoch. Die Veranstaltungen füllen zwar längst keine großen Hallen mehr, bieten aber in der Regel viel ausgeglichenere und daher spannendere Fights als in den Glanzzeiten von Wilfried Sauerland und dem 2013 insolvent gewordenen Hamburger Universum-Boxstall um Promoter Klaus-Peter Kohl (der anfangs auch die beiden Klitschko-Brüder betreut hatte). Ohne die großen TV-Einnahmen und daher angewiesen auf Eintrittsgelder müssen die Promoter, unter denen sich SES Boxing aus Magdeburg inzwischen einen guten Ruf erworben hat, möglichst interessante Paarungen zusammenstellen.
Ob damit verhindert werden kann, dass das deutsche Profi-Boxen 25 Jahre nach Henry Maskes erster Weltmeisterschaft und dem daraus in Deutschland erwachsenen Box-Boom mit regelmäßig zweistelligen Millionen-Einschaltquoten in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, mag allerdings gelinde bezweifelt werden. Es fehlen einfach die echten Nachfolger von Figuren wie „Gentleman" Maske, Sven Ottke, Markus Beyer, Dariusz Michalczewski oder Felix Sturm. Auch von der herausragenden Trainer-Gilde ist nur noch der nimmermüde Ulli Wegner aktiv, Manfred Wolke hingegen genießt den wohlverdienten Ruhestand, der Klitschko-Macher Fritz Sdunek ist 2014 verstorben. Finanziell steuert das deutsche Profi-Boxen momentan wieder geradewegs auf die Vor-Maske-Ära zu. Selbst Sauerland musste sparen, Personal entlassen, sich von namhaften Sportlern trennen und seine Berliner Firmenzentrale aufgeben. Ein neuer Maske ist weit und breit nicht in Sicht, daher wird es in absehbarer Zeit für das deutsche Profi-Boxen wohl kein zweites Goldenes Zeitalter geben, während dem fast an jedem Wochenende in ARD, ZDF oder bei RTL Titelkämpfe aus großen Arenen übertragen worden waren.