Straßburg und das baden-württembergische Kehl sind ein Musterbeispiel der deutsch-französischen Zusammenarbeit – die Europabrücke ist heute ein Symbol des europäischen Friedens. Ein Besuch an beiden Ufern des Rheins.
Mitten auf der Grenze lässt es sich hervorragend picknicken. Auf der Passerelle des deux Rives, einer Fußgängerbrücke, die Kehl und Straßburg verbindet, stellten die Planer ein paar Bänke und Tische auf. Genau an der Stelle, an der sich über der Mitte des Flusses die Staatsgrenze befindet. Ein eisiger Wind weht derzeit durch den Zaun, der als Geländer dafür Sorge trägt, dass niemand von der Brücke fallen kann. „Michèle und Jonas, 5.5.2017" steht auf einem Schloss, das, wie es an Brücken üblich ist, an dem Geländer befestigt ist. Vielleicht hat ein deutsch-französisches Liebespaar es dort befestigt, als es an einem schönen Sommertag zur Picknickstelle auf der Grenze kam.
An diesem rauen Januarmorgen sitzt dort zwar niemand, das Gefühl des europäischen Friedens ist aber an kaum einem Ort so greifbar wie hier auf dem Steg, der den „Garten der zwei Ufer" verbindet. Der Park ist gesäumt von Skulpturen und Ehrenmälern. Sie erinnern an gefallene Soldaten und Nationalhelden. Er führt weiter bis zur Europabrücke, die von der Passerelle aus zu erkennen ist. Eine Straßenbahn fährt auf der geschichtsträchtigen Rheinüberquerung nun von Deutschland nach Frankreich. Autos brausen im Sekundentakt über die Grenze, für die sich, Wochen nach dem Terroranschlag auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt, an diesem Tag längst keiner mehr interessiert.
„Die Zöllner kannten mich"
Das war einmal anders, erinnert sich Hedwig Kurz. Die 83-Jährige lebte in den 80er- und 90er-Jahren in Kehl und erinnert sich an die Zeiten vor dem Schengen-Abkommen. „Am deutschen Ufer befand sich damals die deutsche Grenzstation, am französischen Ufer die französische." Wer in einem französischen Supermarkt einkaufen wollte, musste die Grenzkontrollen über sich ergehen lassen. Hedwig Kurz musste das nicht tun. „Die Zöllner kannten mich", sagt sie und lacht. „Ich bin jeden Tag mit dem Fahrrad über die Grenze gefahren, was hätte ich schon schmuggeln sollen?" Also winkten die Grenzbeamten sie durch, als sie zu ihrer Arbeitsstelle in Straßburg fuhr. Trotz der befestigten Grenze waren Grenzgänger keine Seltenheit. Kurz arbeitete bei einem deutschen Lebensmittelfabrikanten in der Buchhaltung, die in Straßburg ansässig war. „Mit den Franzosen hatte ich nur im Büro Kontakt, die Elsässer waren sehr nette Leute", erzählt sie. Dennoch war das Leben für die aus Schlesien zugezogene Frau und ihren damals elfjährigen Sohn zunächst gewöhnungsbedürftig. „Als wir damals zum ersten Mal einkaufen waren, haben die Kunden im Supermarkt alle französisch gesprochen und wir wussten gar nicht, warum."
Bald merkte sie, dass das Einkaufen im deutschen Kehl billiger war. Bei vielen Waren ist das heute noch so – die Tabakindustrie boomt in der Kehler Innenstadt. Fast noch in Sichtweite der Europabrücke reiht sich ein Tabakkiosk an den anderen. Knallbunte Werbetafeln preisen Zigaretten für sechs Euro pro Schachtel an. „Sparen Sie bis zu 31 Prozent", steht dort auf Französisch. In den Läden begrüßen die Kassierer die Kunden auf Französisch – denn Deutsche verirren sich dort selten hin. „99 Prozent meiner Kunden sind Franzosen", sagt eine Ladenbesitzerin. „Bei ihnen kostet die Schachtel Zigaretten acht Euro, deshalb kommen sie zu uns rüber und kaufen ihren Tabak hier." Nicht nur die Kioske profitieren heute von der deutsch-französischen Freundschaft. Die Städte Kehl und Straßburg arbeiten auch politisch eng zusammen, etwa in der gemeinsamen Arbeitsgruppe Umwelt. Sie trifft sich dreimal im Jahr und behandelt aktuelle Themen des grenzüberschreitenden Umweltschutzes, informiert sich gegenseitig über umweltrelevante Themen oder Vorhaben und begleitet gemeinsame Projekte.
Im Sommer sind französische Sozialarbeiter in den beiden Kehler Freibädern präsent: Sie bieten französischen und deutschen Jugendlichen sportliche Aktivitäten und Turniere an und schlichten nötigenfalls auch Streit. Seit die französischen Schlichter in den Freibädern arbeiten, ist die Polizei seltener im Einsatz. Zuvor gab es häufiger Ärger mit Gruppen französischer Jugendlicher, wie die Stadt Kehl mitteilt.
Auch stadtplanerisch arbeiten die beiden Grenzstädte eng zusammen. Schon in den 70er-Jahren gab es erste Überlegungen einer grenzüberschreitenden Planung für den Großraum, in dem mehr als 300.000 Menschen leben. Die Öffnung der Grenzen im gemeinsamen europäischen Binnenmarkt beflügelte die Kooperation schließlich. 1998 lobten die beiden Städte einen europaweiten Wettbewerb aus, mit dem sie einen gemeinsamen Plan für die städtebauliche Gestaltung beider Rheinufer finden wollten. Die Wettbewerbsaufgabe ging weit über das Gelände des Gartens der zwei Ufer hinaus, in dem 2004 die grenzüberschreitende Gartenschau stattfand. Der Garten dient heute als Naherholungsgebiet. Europaflaggen wehen dort neben den Nationalflaggen Deutschlands und Frankreichs. Frei zugängliche Sportgeräte, Hunde-Freilaufzonen und Joggingstrecken auf beiden Seiten des Flusses machen ihn zu einem beliebten Ausflugsziel für Deutsche und Franzosen. Nachdem der Garten der zwei Ufer und die Passerelle des deux Rives Realität geworden waren, haben die Planer auf beiden Seiten die Verlängerung der Tramstrecke von Straßburg nach Kehl in Angriff genommen: Ende April 2017 fand die Jungfernfahrt der Tram über den Rhein statt.
Feuerwehren üben gemeinsam
In dem Fluss, der Deutschland und Frankreich trennt, ist ein deutsch-französisches Feuerlöschboot für Notfälle stationiert. Die „Europa 1" ist zur Hälfte über Interreg-Gelder und zu je einem Viertel vom Land Baden-Württemberg und dem französischen Staat finanziert. Die Feuerwehren Straßburg und Kehl betreiben das Boot gemeinsam nach einem genauen Plan: Unter der Woche bemannt tagsüber die Straßburger Feuerwehr das Boot, abends, nachts und an den Wochenenden ist die Kehler Wehr im Einsatzfall zuständig. Zusätzlich arbeiten die Feuerwehren in einer gemeinsamen Tauchgruppe zusammen und bilden ihren Nachwuchs in gemeinsamen Schulungen aus.
Stichwort Nachwuchs: Auch die Jugend in beiden Städten profitiert von der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Die deutsch-französische Kinderkrippe existiert seit 2014. Dort wachsen 30 Kinder aus Straßburger und 30 Kinder aus Kehler Familien im Alter von zehn Wochen bis drei Jahren mit beiden Sprachen und beiden Kulturen auf. Keine hundert Meter von der Grenze entfernt steht diese Krippe als gigantischer Holzbau wie ein eigenes Mahnmal direkt an der Europabrücke. Die europäische Flagge weht über dem Eingang, vor der Tür steht ein originalgetreu nachgebildeter Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg. Das grün lackierte Stahlkunstwerk richtet sein Kanonenrohr direkt auf den Eingang der Schule – ein makaberes Werk, das dort niemanden vergessen lässt, dass die Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen in den vielen Jahren der gemeinsamen Geschichte keine Selbstverständlichkeit ist. Wenige Meter weiter erinnert ein Hinweisschild an die „Voie de la deuxième division blindée", eine französische Truppe, die gemeinsam mit den Alliierten im Sommer 1944 von der Normandie bis nach Straßburg marschierte, um Frankreich von den Nazis zu befreien.
Überhaupt ist das Rheinufer auf französischer Seite gesäumt von Erinnerungen an französische Helden, die die Wehrmacht ermordete. Auf der deutschen Seite erinnert eine aus Stahl gefertigte Rose an die Widerstandsgruppe „Réseau Alliance". „Wenige Stunden nach der Befreiung Straßburgs durch die Alliierten zerrten Gestapo-Schergen am 23. November 1944 neun Mitglieder der Widerstandsgruppe aus dem Gefängnis und ermordeten sie am Kehler Rheinufer", ist auf einer Inschrift zu lesen.
Wer von diesem Denkmal aus seinen Blick über das Ufer schweifen lässt, an dem vor 75 Jahren deutsche Männer Franzosen ermordeten, sieht heute den friedlich plätschernden Rhein, grüne Wiesen und Spaziergänger, die Hand in Hand durch den Park flanieren. Hin und wieder, wenn die Straßburger und die Kehler ihre Freundschaft feiern, fahren Schiffe über den Rhein, bunt geschmückt und beleuchtet. Man kann ihnen zusehen, wenn man auf der Passerelle sitzt und picknickt – mit einem Bein in Frankreich und mit einem Bein in Deutschland.