Für den Freiburger Historiker Gerd Krumeich ist die Erneuerung des Elysée-Vertrages überfällig: Er plädiert für mehr Kooperation und Bürgernähe. Und für Erleichterungen beim Austausch der Deutschen und Franzosen miteinander.
Herr Professor Krumeich, ist nach 55 Jahren ein neuer Elysée-Vertrag Ihrer Meinung nach wirklich notwendig?
Ja, er ist unbedingt notwendig. Vor 55 Jahren wurde festgelegt, dass sich Deutschland und Frankreich außenpolitisch abstimmen, dass dafür dauernde Mechanismen, etwa regelmäßige Treffen auf Ministerebene, stattfinden sollen. Das zielte insbesondere auf die möglichst gemeinsam zu führende Europa-, Außen- und Verteidigungspolitik. Eine weitere äußerst wichtige Maßgabe war die Formalisierung und Intensivierung der gemeinsamen Aktivitäten in der Jugend- und Erziehungspolitik. Dafür wurde das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) gegründet.
Ich finde, der Elysée-Vertrag war, gemessen an den Vorbedingungen von 1963, ungemein erfolgreich. Aus der Zusammenarbeit ist eine Freundschaft geworden. Das DFJW hat vieles geleistet. Es hat auch weitergehende Aktivitäten gegeben, wie etwa die Bemühungen um gemeinsame Schulgeschichtsbücher. Diese waren intensiv und ansatzweise erfolgreich.
Aber es ist unbedingt notwendig, der mit der erfolgreichen Zusammenarbeit einhergehenden Ritualisierung und Erschlaffung zu begegnen und Neues einzubringen.
Deshalb finde ich die jetzt eingeführte Kooperation der Parlamente sehr wichtig. Auch die über das Bisherige hinausweisenden Absichten im kulturellen Austausch sind zu begrüßen. Und das immer aktueller werdende Problem der Sprachschwierigkeiten ist wirklich drückend. Wie soll es den Austausch weiter geben, wenn in den deutschen Schulen immer weniger Französisch gelehrt wird und auch in den französischen Schulen aller Stufen der Deutschunterricht zurückgedrängt wird? Aber letztlich könnte ich mir auch eine deutsch-französische Freundschaft in englischer Sprache vorstellen. Das wäre dann die ja auch letztlich angestrebte europäische Integration des deutschen und des französischen Elements.
Der neue Elysée-Vertrag enthält eine Vielfalt an Ideen und Vorschlägen zur Kooperation in Bereichen, an die 1963 überhaupt nicht gedacht werden konnte: etwa in Bezug auf die neuen Medien oder – wichtiger – die Kooperation in der Flüchtlingsfrage. Auch die gemeinsame Klimapolitik spielt jetzt erfreulicherweise eine große Rolle.
Auch die angestrebten „Bürgerbefragungen" könnten die bislang bestehenden, aber recht kraftlos gewordenen Städtepartnerschaften mit neuem Leben erfüllen. Da kommen wirklich spannende Erfahrungen auf uns zu, wenn wir in den deutsch-französischen Belangen in einen ständigen Dialog mit den Bürgern der beiden Nationen treten.
Die Idee, sich besonders den grenznahen Gebieten zu widmen und den Austausch „über die Grenzen" hier in jeder Beziehung ganz konkret zu fördern, ist ebenfalls ausgezeichnet, weil realitätsnah. Ich bin gespannt, was dabei konkret herauskommt und wie das alles organisiert werden soll, ohne dass in erster Linie neue Bürokratien des Austausches entstehen. Denn diese Gefahr besteht leider immer. Eine Entbürokratisierung der deutsch-französischen Beziehungen bleibt die hauptsächliche Herausforderung, um zu konkreten Fortschritten zu kommen.
Ist ein neuer Elysée-Vertrag für Angela Merkel und Emmanuel Macron eine Garantie, nach Adenauer und de Gaulle Teil der deutsch-französischen Geschichte zu werden?
Wenn sie es wirklich schaffen, den kulturellen Austausch auf allen Ebenen zu stärken, wäre das sicherlich ein Pluspunkt für ihren Platz in den Geschichtsbüchern.
In welchen Bereichen müssen Frankreich und Deutschland noch besser zusammenarbeiten?
Extrem wichtig wäre es, wenn die Zusammenarbeit auch jenseits der damit direkt befassten, aber hoch bürokratisch geformten Institutionen, besonders dem Deutsch-Französischen Jugendwerk, funktionieren könnte. Es wäre beispielsweise unendlich wichtig, wenn Lehrer in Schulen und Gymnasien, die zum Beispiel eine Exkursion nach Verdun oder an die Somme oder den Hartmannswillerkopf im Elsass planen, alle möglichen Erleichterungen zur Durchführung solcher Projekte erhielten. Jetzt werden solche Exkursionen nur dann bezuschusst, wenn man sich mit entsprechenden Schulklassen von französischer Seite trifft. Das ist ein schwerer Klotz am Bein aller Gutwilligen, denn das lässt sich meistens nicht planen und durchführen. Ich finde: Alles, was dazu dient, dass junge Menschen Frankreich kennenlernen, sollte großzügig gefördert werden, ohne den Kropf an Administration und Einschränkungen, die wir heute erleben. Gerade Exkursionen sind so wichtig. Und sie sind in den Finanzplänen der Schulen und Universitäten immer weniger vorgesehen. Doch die strikt eingeforderte „Beidseitigkeit" ist nicht immer durchführbar, und deshalb scheitern viele Initiativen – davon kann ich ein Lied singen.
Wie sehen Sie das deutsch-französische Paar Merkel-Macron?
Na ja, nett anzusehen, wie sie sich duzen und auch schüchtern umarmen, wie jetzt in Compiègne. Aber sie sind in Temperament und den politischen Ansichten und Verfahrensweisen sehr verschieden. Frau Merkels betonte Sachlichkeit ohne Firlefanz passt nicht zum leicht napoleonischen Gestus und Duktus von Herrn Macron. Und da ja Frau Merkel sicher nicht mehr lange Bundeskanzlerin sein wird, sehe ich auch in dem Paar keine Zukunft. Ist Macron nicht schon im Begriff, die Leitwolf-Rolle an sich zu reißen?
Wie sehen die Deutschen die Franzosen und Frankreich? Und umgekehrt?
Eine in dieser Allgemeinheit kaum zu beantwortende Frage. Meine Erfahrung mit sehr vielen Franzosen: eine Beziehung zwischen Freundlichkeit und relativer Indifferenz. Eine Beziehung, die aber sofort in Gefahr gerät, wenn irgendetwas darauf hinzuweisen scheint, dass in Deutschland der Nationalismus wieder Zulauf gewinnen könnte oder sogar gewinnt. Dann kommen sofort die alten Ängste und die schlimmen Erfahrungen wieder hoch. Übrigens auch bei denjenigen, die diese schlimmen Erfahrungen mit den Deutschen gar nicht mehr selbst gemacht haben, aber aus der Erzählung ihrer Eltern, Großeltern und Verwandten kennen. Machen wir uns da nichts vor!
Und wie die Deutschen die Franzosen sehen, ist auch nicht eindeutig zu beantworten. Man hat sicherlich mehr Respekt vor ihnen als früher, als man doch durchgängig der Auffassung war, dass bei allem Genie die Qualität französischer Produkte, etwa Autos, nicht standhalten könne mit dem Made in Germany. Wenn etwa Peugeot Opel kauft und das den Opel-Arbeitern offensichtlich nicht schlecht bekommt, tritt vielfach anerkennendes Schweigen ein. Was aber sehr deutlich ist: „Frankreich" wird in Deutschland noch viel zu häufig mit „Paris" gleichgestellt. Eine „Regionalisierung" der Beziehungen wäre sehr wünschenswert.