Sie leitet seit neun Jahren das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg und ist seit 20 Jahren mit Gedichten unterwegs: Lyrikerin Nora Gomringer kommt demnächst auch nach Saarbrücken.
Frau Gomringer, Sie sind in Neunkirchen geboren, aber nicht im Saarland, sondern in Bayern, in Wurlitz, aufgewachsen. Wie kam es?
Durch die Eltern. Als zweijähriger Mensch hat man ja nichts mitzusprechen. Daher bin ich ins Oberfränkische exportiert worden, weil mein Vater bei Rosenthal als so eine Art Artdirector arbeitete.
Ihre Mutter ist Germanistin, Ihr Vater Dichter und Kunstprofessor. Sie haben Anglistik, Germanistik, Kunstgeschichte studiert und eine Bilderbuchkarriere hingelegt. Hätten Sie sich überhaupt irgendetwas ohne Buchstaben vorstellen können?
Ich habe ehrlich gesagt sehr getrauert, dass ich nicht Medizin studiert habe. Ich hatte einen Freund, der gesagt hat: Ich finanziere das. Ich war nicht mutig genug. Ich war zwei Mal im Leben nicht mutig genug. Ich wollte lange Zeit auch Schauspielerin werden. Mit 18, 19, 20 fiel es mir sehr schwer, mein Leben zu planen. Ich kam nicht so ganz in die Startlöcher und habe dann das studiert, wo der geringste Widerstand war. Das merke ich heute beim Sprechen mit jungen Leuten, das Nicht-so-ganz-wissen-wie-und-wo. Ich kam aus einer Jugend, die kompliziert war, ich habe überlegt: Wie kann ich mein Leben so organisieren, dass andere da reinpassen? Ich wollte immer arbeiten und Geld verdienen, um selbstständig zu sein. Ich war an der Universität Bamberg am Lehrstuhl für Anglistik wissenschaftliche Hilfskraft und Assistenz und früh schriftstellerisch unterwegs.
Stimmt es, dass Sie Praktikantin bei der Oscar-Verleihung waren?
2000 habe ich für die Academy of Motion Picture Arts and Sciences in Los Angeles gearbeitet. Was wir vorbereitet haben, war die Oscar-Show von 2001. Das war spannend. Ich war im Filmarchiv und habe mich darum kümmern dürfen, dass experimentelle Filme aus den 20er- und 30er-Jahren gut inventarisiert wurden.
„A E I O U" zeigt das Tattoo auf Ihrem linken Arm. „Austria erit in orbe ultima" – Alles Erdreich ist Österreich Untertan. Verehren Sie die Habsburger?
Oh, wow, (lacht) ich wusste nicht, dass es dafür eine lateinische Auflösung gibt! Für mich ist es die Arbeit meines Vaters, es ist in den 90er-Jahren entworfen worden. Es ist ein Bildgedicht, das Eugen Gomringer gestaltet hat – es heißt „Die Vokale". Ich habe lange überlegt, was ich mir in die Haut stechen lasse – etwas, das ein Rätsel aufgibt und ein Gespräch starten kann. Es ist vielleicht meine Art, mit meinem Vater umzugehen, nämlich über das Werk, das hilft mir ein bisschen – wir sind gar nicht so eng. Und dann hilft das, dass wir so eine Gesprächsgrundlage haben.
„Vor der Lyrik kann man Angst bekommen/Nachts, wenn sie sich abspielt/Keinen versöhnlichen Ton trifft." heißt es in „Demografisches Scherzo". Klopft das Gedicht bei Ihnen an, oder müssen Sie es herauslocken?
Ich kann schon fast von zwei Werkphasen sprechen. Es klopft immer weniger an. Früher habe ich oft die Notwendigkeit und auch die Freiheit der Gedanken gespürt. Jetzt muss es hergestellt werden. Ich setze mich hin, klar ökonomisiert in Zeit und Verfahren. De facto muss ich im nächsten Frühjahr einen Lyrikband abliefern mit 40 bis 50 Gedichten. Da setze ich mich hin und schreibe zu dem Thema. Dann produziert man ein bisschen Ausschuss. Aber eigentlich versuche ich, ziemlich genau zu zielen und zu treffen.
Welcher Verfasstheit bedarf es für Sie, um ein Gedicht schreiben zu können?
Ein gewisses Maß an Einsamkeit. Ein aufzuhebendes Maß an Abgeschiedenheit. Ein Funken Verzweiflung ist wichtig. Mir fällt es schwer, aus dem Glücklichen heraus zu schreiben. Aber was ich gut kann, ist, Auftragsarbeiten zu schreiben, wenn ich glücklich bin.
Empfinden Sie schreiben als Arbeit oder Vergnügen?
Große, große, schwere Arbeit, die größtes Vergnügen bereiten kann.
Sie betrachten Gedichte als „Lebensschutzschilde" und als „sprechbares Material". Sie haben für ihre Literatur den Begriff „Sprechtexte" gefunden. Was meinen Sie damit?
Ich frage mich sehr, wie die inneren Stimmen der Leute sich anhören, wenn sie sich Gedichte und Texte selbst vorlesen. Und ob diese Lesefähigkeit, die auch etwas mit Expressionswillen und Absicht zu tun hat, ob das erfüllt werden kann. Deshalb meine ich, dass schon deshalb viele Gedichte und Texte bei Leuten nicht ankommen, weil sie sich diese Expressivität nicht erlauben. Ich gehe von Mündlichkeit aus. Das Endergebnis ist immer Klang.
Bevor Sie 2015 am Bachmannpreis teilgenommen und gewonnen haben kannten Sie die Veranstaltung sicherlich. Haben Sie gedacht: „Da muss ich hin!"?
Nee, aber geträumt habe ich es. So vergeblich geträumt, wie eben jemand, der Lyrik schreibt. Ich habe immer gedacht, oh, wie schade, ich drück mir die Nase platt am Schaufenster und innen drin, in dieser Auslage, liegt nur die Prosa. Es war wie ein großes Aquarium, wo man die schönen Fische sieht. Ich habe nie gedacht, dass mir das passiert, es ist aber insgeheim meine größte Lust und Freude und auch mein größter Wunsch: entdeckt zu werden. Sandra Kegel (Bachmannpreis-Jurorin Anm. d. Red.) hat mich in einer Bar in Reykjavik stehend und Gedichte deklamierend für die Gesandten des Pressecorps Deutschlands in Vorbereitung auf die Frankfurter Buchmesse Schwerpunkt Island gesehen, vier Jahre später angerufen und gesagt: ´Ich glaube sicher, dass Sie einen Prosatext schreiben können. Schreiben sie was, ich nehme sie mit´ (Bachmannpreis-Juroren können die Wettbewerbsteilnehmer nominieren, Autoren können sich bewerben. Anm. d. Red.). Es fielen alle günstigen Sterne auf einen Punkt, und es leuchtete ganz hell!
Die Teilnahme beim Bachmannpreis schafft so viel Öffentlichkeit wie jahrzehntelanges Publizieren nicht. Inwiefern hat sich ihr Leben nach der Auszeichnung verändert?
Es war erst mal sehr hilflos und angestrengt. Es kamen ziemlich viele Morddrohungen und aggressive Meldungen neben den vielen freundlichen Gratulationen. Ich hatte lange Zeit einen unangenehmen Stalker, der sich an mich hängte. Das ist eigentlich keine gute Erinnerung.
Heute sitzen Sie in der Jury. Sieht man dort – die Veranstaltung wird live auf 3sat übertragen – wie Literaturkritik funktioniert?
Es zeigt, wie sie funktionieren kann. Sieben Menschen setzen sich mit einem Text auseinander und versuchen aus dem Text heraus, werkimmanent, zu argumentieren.
Kann man so unterschiedliche Texte wie beispielsweise den Text einer Trennung von Yannic Han Biao Federer mit dem von Ronya Rothmann über einen Genozid bei den diesjährigen 43. Tagen der deutschsprachigen Literatur überhaupt vergleichen?
Nein, aber das muss man ja auch nicht – zum Glück. Man kann jeden einzelnen Text für sich stehen lassen und bewerten. Ich glaube schon, dass der Mensch per se so viele Aufnahmerezeptoren hat – wir setzen uns immer Wechselzuständen aus. Wenn wir den Fernseher anmachen, haben wir innerhalb einer Minute 20, 30 Kanäle durchgezappt und vom Holocaust zu Tschernobyl bis zur spielenden Katze alles mitgenommen. Das kriegen wir alles verarbeitet, das schafft man schon. Ich sehe eher die Schönheit darin, dass es eine große Vielfalt gibt und die bestehen darf.
Der Bachmannpreis ist nicht unumstritten. Ist die Veranstaltung ein Literaturgerichtshof?
Wer es dazu erklären möchte, sieht es so. Ich glaube auch nicht, dass wir so viel Macht haben und haben sollten. Ich warne auch die Autoren: Ich rufe sie an, wenn ich sie ausgewählt habe und bitte sie fast um Verzeihung, dass ich sie gerne mitnehmen möchte. Es haben mir auch Leute abgesagt und gesagt: Ich will mich dem nicht aussetzen.
„Befindlichkeitsprosa", „Konstruiert wie ein Ikea-Regal", „Völlig missglückt" lauteten Jury-Beurteilungen im Jahre 2016. Ist das nicht subjektiv
und anmaßend?
Ja, aber dafür steht jeder Juror mit seiner Stimme, und just in dem Moment spricht eben der eine. Es sind sieben Meinungen, die sich auf einen Text beziehen, der letztlich nicht mit den Meinungen der Juroren im Kopf von den Lesern konsumiert wird – die lesen den, wie sie selbst es meinen. Es geht um Leserinnen und Leser, es geht viel weniger um Kritik.
In „Fressfeinde der Autoren" erfahre ich, dass Sie Darwin und Schopenhauer und den Playboy zur Beruhigung lesen. Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen, das Sie wach machte?
Von der wunderbaren Madeline Miller den schönen englischen Roman „Circe".
Die, die die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelte?
Genau. Im August erscheint der Roman auch auf Deutsch. Eine Lebensgeschichte von Circe, die eine spannende Figur ist. Mit einem großartigen Zitat, als Circe ihren Vater fragt: Wie sehen Menschen eigentlich aus? „You may say they are shaped like us, but only as the worm is shaped like the whale." (Man kann schon sagen, dass sie unsere Gestalt besitzen, aber eher so wie der Wurm die des Wals.) Oder auch die Graphic Novel „Drei Wege" von Julia Zejn.
„Nora Gomringer muss sich fragen lassen, was ein Gedicht ausmacht/Nora Gomringer, was macht ein Gedicht aus?/Nora Gomringer macht das Gedicht. Aus." heißt es in „Fortsetzung". „Nora Gomringer macht das Gedicht. Aus.", lautet der Titel ihres Solos. Ich frage nicht: Was macht ein Gedicht aus, sondern: Frau Gomringer, was erwartet uns an diesem Abend?
Ich bin zu einer Carte blanche eingeladen, die ich gerne mit neuen und neuesten Texten beschreibe. Gibt es einen Beamer, dann zeige ich gerne aus den drei letzten Lyrikbänden Arbeiten, die von Illustrationen von Reimar Limmer begleitet werden. Ein 70 Minuten pausenloser, fröhlicher, süßsaurer, herzlicher zusammengestrickter Abend.