Niklas Kaul nutzte als Zehnkampf-Weltmeister die Gunst der Stunde und schrieb deutsche Leichtathletik-Geschichte. Der französische Weltrekordler Kevin Mayer bleibt auch für Olympia der klare Favorit. Doch Kaul ist mindestens der große Herausforderer. Und bleibt dabei herrlich normal und geerdet.
Woher dieser Kerl seine unfassbare Ruhe hat, erfuhren die deutschen Sport-Fans schon am Tag seines Triumphes. Vor und nach der zehnten und letzten Disziplin, dem 1.500-Meter-Lauf, interviewte ein ARD-Reporter auf der Tribüne in Katar die Eltern von Niklas Kaul. Und die wirkten so gelassen, dass der Reporter sie schließlich fragte, ob sie denn überhaupt nicht aufgeregt seien.
Und genauso cool nutzte Niklas Kaul die große Chance, die sich ihm plötzlich aufgetan hatte. Der französische Weltrekordhalter Kevin Mayer galt eigentlich als unschlagbar und lag vor dem Stabhochsprung auch deutlich auf Siegkurs. Doch der Franzose schied unter Tränen aus, und plötzlich war die Bahn frei. Dass ausgerechnet Niklas Kaul der Nutznießer sein würde, war aber nicht abzusehen. Nach den 100 Metern war er 20., am Ende des ersten Tages belegte der 21-Jährige Rang elf. „So lala" sei dieser Tag gewesen, analysierte Frank Busemann als ARD-Experte. Doch dann rollte Kaul das Feld von hinten auf. Mit dem Diskus verbesserte er seine persönliche Bestleistung um beachtliche 1,85 Meter auf 49,20 Meter, im Stabhochsprung stellte er sie mit 5,00 Meter ein – und verzichtete dann auf weitere Versuche, um Körner zu sparen. Was für eine coole Socke!
Dennoch spürte er nun, das was drin ist, zumal Mayer eben raus war. „So nervös wie zwischen Stab und Speer war ich noch nie", gestand er bei einem Besuch in der „Sportschau". Obwohl man es diesem coolen Typen nicht so recht abnimmt. Er habe eben gelernt, „wie man alles drumherum ausblenden kann", sagte er. Den Speer schleuderte er schließlich auf 79,05 Meter. Niemals zuvor hatte ein Zehnkämpfer eine solche Weite erzielt. Vor den 1.500 Metern war Kaul zwar Dritter, doch beim Vergleich aller Vorleistungen war schnell klar: Der WM-Titel war zum Greifen nah. Er musste ihn nur noch locker nach Hause laufen. Die Rechnereien kannte er natürlich. Und legte sich in den Katakomben erst noch mal 20 Minuten hin. Auf der Startbahn sei dann der Puls doch hochgegangen. „Auf der einen Seite sagst du dir: Jetzt holst du dir Gold", sei ihm durch den Kopf gegangen. „Auf der anderen sagst du dir: Wenn du es nicht schaffst, bist du vielleicht der Depp der Nation." Er wurde zum Helden. Als jüngster „König der Athleten", den es je gab. Und als zweiter Deutscher nach Torsten Voss 1987. Quasi über Nacht war ein neuer deutscher Sportstar geboren. Für die Wahl der „Sportler des Jahres" im Dezember gilt er als Favorit.
Am Ende des ersten Tages auf Rang elf
Dass das eine Überraschung war, vielleicht gar eine Sensation, wusste auch Kaul selbst. Hätte ihm das vor drei oder vier Wochen jemand vorhergesagt, hätte er ihm empfohlen, „dass er vielleicht mal ein bisschen weniger Bier trinkt", sagte er schmunzelnd. „Auf jeden Fall hätte ich ihn für verrückt erklärt."
In der Nacht nach dem Triumph habe er sich „ein Bier gegönnt und im Swimmingpool den Sonnenaufgang angeschaut", erzählt Kaul schließlich. „Das war sehr schön." Und dann zeigte er Souveränität in der elften Disziplin: dem Ehrungen-Marathon. Er habe „etwa 800 bis 900 Nachrichten" auf dem Handy gehabt, berichtete er. „Ich werde den ganzen Rückflug brauchen, um die abzuarbeiten." Was er dann tat. An Schlaf war sowieso nicht zu denken. „Da spielt natürlich Adrenalin auch eine große Rolle. Aber wenn das langsam mal runtergeht, werde ich auch einfach mal ein, zwei Tage durchschlafen müssen." Erst mal wolle er alles aufsaugen: „Weltmeister wird man nur einmal im Leben. Es gibt im Sport keine Garantien, dass es so weitergeht. Deshalb ist es umso wichtiger, das jetzt zu feiern, was man geschafft hat." Er habe sich aber auf zwei oder drei Tage Trubel eingestellt. „Dass es so viel wird, hätte ich nicht gedacht", erklärte er ein paar Stunden später.
Am Flughafen in Frankfurt wurde ihm ein großer Empfang bereitet, von da ging es direkt ins Mainzer Rathaus zur Eintragung ins Goldene Buch seiner Heimatstadt und schließlich direkt ins ZDF-Sportstudio. Bis dahin habe er in zwei Tagen nur rund drei Stunden Schlaf gehabt, berichtete Kaul, „zusammenaddiert". Doch auch diesen Auftritt meisterte er zunächst sympathisch und souverän. Nur auf das obligatorische Torwandschießen musste er verzichten. Wegen Blasen an den Füßen. Auch ein Sportheld macht irgendwann schlapp.
Was ihn noch sympathischer und authentischer machte: Kaul nutzte seine neue Popularität nicht nur, um sich feiern zu lassen, sondern auch, um unangenehme Dinge mit der Stimmkraft eines Weltmeisters anzusprechen. Die WM-Vergabe an Katar sei ein Fehler gewesen, sagte der Lehramtsstudent zum Beispiel: „Ich glaube, dass man der Leichtathletik da keinen Gefallen getan hat." Dass das Sport-Multitalent, das bis zum Alter von 15 auch noch Handball spielte, irgendwann oben landen würde, war absehbar. In seiner Altersklasse in der Jugend hatte Kaul fast keine Gegner. Sowohl bei der U18-WM 2015 als auch bei der U20-WM 2016, der U20-EM 2017 und der U23-EM 2019 hatte er schon Gold gewonnen. „Dass er irgendwann weltklasse wird, habe ich gewusst", sagte deshalb Willi Holdorf, Olympiasieger 1964 in Tokio. „Dass es aber so schnell geht, hat mich überrascht." Auch der frühere Weltrekordler Jürgen Hingsen war begeistert. „Das ist der Wahnsinn! Der Junge ist ja explodiert", sagte er und prophezeite: „Er kann ganz nach oben kommen."
„Ich hätte ihn für verrückt erklärt"
Und das ist nach dem etwas überraschenden Erfolg ja doch die Frage aller Fragen: Wie geht es weiter mit Niklas Kaul? Kann er im kommenden Sommer Olympiasieger werden, wie Holdorf in Tokio? Kann er Mayer auch im Wettkampf schlagen? Klar scheint zumindest, dass er nicht abheben wird. „Jetzt habe ich schon mehr erreicht, als ich mir als Kind erträumt habe", sagte Kaul. „Alles andere ist Bonus. Ich freue mich auf die Dinge, die sich nicht geändert haben. Normales Training in der Gruppe und die Uni." Letzteres sei „eine sehr schöne Ablenkung". Im Sommerstudium wolle er etwas reduziert studieren, aber es sei „auch wichtig, etwas neben dem Sport zu haben". Auch einen Vereinswechsel schloss er direkt aus. In Mainz, im familiären Umfeld, reifte er bisher schließlich gut. „Es muss auch mal wieder Normalität in mein Leben einkehren", sagte er. „Und es wäre ein Fehler, das bewährte System zu ändern." Dass es in Mainz so gut klappt, liegt auch daran, dass ihm seine Eltern nicht nur die Ruhe in Stresssituationen vererbt haben, sondern das Leichtathletik-Gen als solches. Sein Vater Michael war deutscher Meister über 400 Meter Hürden, seine Mutter Stefanie österreichische. Die beiden wissen, wovon sie reden. Und sie trainieren ihren Sohn auch. „Ohne meine Eltern könnte ich den Leistungssport nicht betreiben", sagte er deshalb. Die Mutter trainiert ihn bei den Läufen sowie im Weitsprung und Hochsprung. Sein Vater bei den Würfen und den Hürden. Allen drei Kauls ist aber klar, dass der Weg zum Olympiagold noch ein weiter ist. „Ich glaube, dass es noch nicht der perfekte Zehnkampf war", sagte der Junior. Schon direkt nach dem WM-Sieg hatte er realistisch gesagt: „Ich bin nicht der beste Zehnkämpfer gewesen, der hier angetreten ist. Aber vielleicht der konstanteste." Es gebe noch ein paar Disziplinen, in denen bei ihm großes Potenzial stecke, gerade in den bisher noch nicht so guten Schnellkraft-Disziplinen. „Einfach, weil es von einem geringeren Niveau leichter ist, sich noch zu steigern", erklärte er. „Fünf, sechs Meter im Speerwurf draufzupacken, wird eher schwierig. Aber es gibt noch einige Disziplinen, wo ich noch einige Punkte draufpacken kann." Deshalb liegt der Schwerpunkt im Training auf der Schnellkraft.
Wenn alles klappt, könne „das Olympiajahr ein sehr schönes werden", sagte Kaul. Das Jahr 2019 war aber auch schon nicht schlecht.