Nicht erst seit der Absage der Hallen-WM in China aufgrund des Corona-Virus spielt die diesjährige Hallensaison für einige der deutschen Top-Leichtathleten nur eine untergeordnete Rolle. Während sie pausieren, drängen andere in den Vordergrund, die bei den nationalen Meisterschaften am 22. und 23. Februar in Leipzig ihre Titelchance suchen.
In den Bestenlisten auf der Webseite des Deutschen Leichtathletik-Verbandes ist er immer noch zu finden: jener Hinweis, welche Leistung für eine Teilnahme bei der Hallen-WM in Nanjing gefordert wird. Mittlerweile sind die Zahlen dort allerdings nicht viel mehr als eine Lesehilfe, wie die Ergebnisse der deutschen Leichtathleten in diesem Winter einzuordnen sind. Denn starten wird bei den Weltmeisterschaften keiner von ihnen. Wegen des Corona-Virus in China hatte der Weltverband World Athletics die Veranstaltung bereits Ende Januar um ein Jahr auf März 2021 verschoben. Ob sich die weltbesten Athleten dann tatsächlich in Nanjing treffen, oder ob das Event stattdessen an einem anderen Ort ausgetragen wird, ist dabei noch offen.
Für die diesjährigen deutschen Hallenmeisterschaften, die am 22. und 23. Februar in Leipzig stattfinden, bedeutet das, dass den Teilnehmern ein Ziel abhandengekommen ist. Mit der WM-Norm muss sich dort niemand mehr beschäftigen. Für die Wettkämpfe muss das nicht schlecht sein, denn so können sich alle Beteiligten auf den Kampf um die Medaillen konzentrieren. Gerade auf den Mittelstrecken war es in der Vergangenheit oft so gewesen, dass Sportler abwägen mussten, was ihnen wichtiger ist: der Titel oder das Ticket für das internationale Großereignis. Manch einer gab deshalb schon im Vorlauf Vollgas, nur um dann bei der eigentlichen Entscheidung kraftlos hinterherzulaufen.
In diesem Jahr stellt sich diese Frage nicht, sodass sich die Zuschauer auf spannende Wettkämpfe freuen können. Zwar haben einige Top-Athleten aufgrund des späten Termins der vergangenen Freiluft-WM in Doha (Katar) und mit Blick auf die Olympischen Spiele in Tokio (Japan) auf eine Hallensaison verzichtet – Sprinterin Gina Lückenkemper zum Beispiel, Hochspringerin Marie-Laurence Jungfleisch oder auch Kugelstoßerin Christina Schwanitz –, dafür haben in den vergangenen Wochen vor allem bei den Männern andere auf sich aufmerksam gemacht, die bislang noch nicht zur nationalen Elite gehörten und nun umso mehr darauf erpicht sind, ihre bislang so starke Hallensaison zu veredeln.
WM auf März 2021 verschoben
Im Sprint über 60 Meter müssen sich Hallenrekordler Julian Reus und Titelverteidiger Kevin Kranz dem Ansturm gleich mehrerer junger Kontrahenten erwehren. Am Ende könnte die Medaillenentscheidung eine Frage von Zentimetern werden, denn die Plätze zwei bis sieben der DLV-Bestenliste liegen aktuell lediglich vier Hundertstel auseinander. Der Stuttgarter Philipp Corucle etwa, der im vergangenen Jahr noch im Vorlauf der Hallen-DM ausschied, hat sich auf 6,64 Sekunden verbessert und ist damit momentan hinter Reus die Nummer zwei hierzulande. Seine starke Form bestätigte er anschließend auch beim PSD Bank Meeting in Düsseldorf, wo er bei seinem Debüt auf internationalem Parkett in einem gut besetzten Feld als Sechster der beste Deutsche war. Beim Istaf Indoor in Berlin wurde diese Ehre kürzlich einem anderen Aufsteiger dieses Winters zuteil: dem Augsburger Aleksandar Askovic, der mit 6,65 Sekunden in dieser Saison nur unwesentlich langsamer unterwegs war als Corucle. In Leipzig wollen beide noch schneller laufen, sodass sich Altmeister Julian Reus wohl ordentlich strecken muss, um seiner Favoritenrolle gerecht zu werden.
Ähnlich spannend dürfte es über 1.500 Meter zugehen. Der Jahresschnellste dieses Winters ist mit einer Zeit von 3:39,70 Minuten auch hier ein alter Bekannter: Der Wattenscheider Marius Probst war bereits U23-Europameister 2017 und stand auch bei deutschen Hallenmeisterschaften schon zweimal ganz oben auf dem Treppchen. Bei den letztjährigen Halleneuropameisterschaften wurde er Sechster. Doch ähnlich wie Julian Reus im Sprint hat auch er Konkurrenz durch zwei junge Wilde bekommen. Der erst 20-jährige Mohamed Mohumed hatte im Januar bei einem Einlagerennen im Rahmen der NRW-Jugendmeisterschaften in 3:40,01 Minuten die Hallen-WM-Norm lediglich um eine Hundertstelsekunde verpasst und seine Bestzeit dabei um mehr als sechs Sekunden verbessert. Zwar findet die WM wie erwähnt nicht statt, doch die Leistung des jungen Dortmunders, der zwischenzeitig sogar auf Platz eins der Weltbestenliste stand, schmälert das in keiner Weise. Im gleichen Rennen gelang auch Maximilian Thorwirth eine deutliche Verbesserung seines bisherigen Hausrekords. Mit 3:40,09 Minuten lag auch er nur neun Hundertstel über dem ursprünglichen Richtwert für Nanjing. Noch nie schaffte er bei Deutschen Meisterschaften der Erwachsenen den Sprung aufs Podium, dafür erntete er in der Jugend und bei den Junioren bereits Edelmetall. In diesem Jahr könnte es nun endlich auch bei den Aktiven so weit sein. Zumal Thorwirth außer auf den 1.500 Metern auch noch auf der doppelt so langen Distanz zum Favoritenkreis zählt. Über 3.000 Meter ist er nach seiner Steigerung auf 7:50,61 Minuten momentan sogar die Nummer eins in Deutschland.
Julian Reus in der Favoritenrolle
Auf dieser Position findet sich unverhofft auch Hochspringer Tobias Potye wieder. Eigentlich ist der Leverkusener Mateusz Przybylko hierzulande der Beste, doch der Europameister von 2018 tut sich in diesem Winter bislang schwer und ist noch nicht so richtig ins Fliegen gekommen. Potye will die Gunst der Stunde nutzen und sich erstmals die Goldmedaille sichern. Im vergangenen Jahr war der EM-Teilnehmer von 2018 verletzungsbedingt nicht dabei, doch ein Titel in Leipzig würde ihn für die Entbehrungen wohl mehr als entschädigen.
Eine Premiere wäre der deutsche Hallenmeistertitel auch für Kugelstoßer Simon Bayer, der allerdings im vergangenen Jahr im Freien schon einmal das süße Gefühl des Sieges auskosten durfte. Damals profitierte er davon, dass Ex-Weltmeister David Storl mit Rückenproblemen gehemmt war. Noch immer ist Storl nicht im Vollbesitz seiner Kräfte, weshalb sein Sieg trotz deutscher Jahresbestleistung von 20,03 Metern keineswegs garantiert ist. Simon Bayer liegt mit 19,86 Meter in Lauerstellung und hat in der Vergangenheit schon des Öfteren bewiesen, dass er sich durchbeißen kann. Als Kind kämpfte er viele Jahre mit ADHS. „Trotz Ritalin bin ich oft in der Schule angeeckt", sagte er den „Stuttgarter Nachrichten", wegen seiner Aufmerksamkeitsstörung musste er häufig nachsitzen. Der Sport sei für ihn ein Ventil gewesen, mit dem er seine überschüssige Energie loswerden konnte, sagte er der Zeitung. Heute mache er das gern mit einem Salto, mit dem er einen besonders gelungenen Versuch ausgiebig zelebriert. Falls die Kugeln auch in Leipzig weit genug fliegen, darf sich das Publikum dort auf eine weitere akrobatische Einlage freuen.
„Ich bin oft in der Schule angeeckt"
Mit solchen kennt sich auch Torben Blech bestens aus. Der Stabhochspringer hat sich in dieser Saison auf 5,70 Meter gesteigert – noch nie sprang der Leverkusener unter dem Hallendach höher. Damit scheint er bereit, um Vereinskollege Bo Kanda Lita Baehre zu entthronen, der im vergangenen Jahr ebenfalls in Leipzig den Titel geholt hatte. Auch seine Saisonbestleistung steht bei 5,70 Meter, die Lita Baehre in diesem Winter allerdings erst einmal überquert hat – Blech dagegen schon einmal mehr. Als Mehrkämpfer stand er früher meist nur in der zweiten Reihe, doch nach dem Wechsel zum Stabhochsprung Ende 2018 hat der 25-Jährige innerhalb eines Jahres einen rasanten Aufschwung zu einem der Hoffnungsträger seiner Disziplin erlebt. Physisch bringt er alles mit, um sogar noch höher zu springen: „Ich bin schnell, ich habe einen sehr guten Take-off, eine gute Sprungkraft und generell gute Kraftwerte", sagt Blech. Die WM-Teilnahme im vergangenen Jahr soll deshalb erst der Anfang gewesen sein. Auch wenn er nach der Absage der Hallen-WM bis zum Sommer auf die nächste internationale Meisterschaft warten muss.