Das Leben von Ulli Wegner ist deutlich ruhiger geworden, das liegt an seiner Verletzung und der Corona-Krise. Doch bald will der Boxtrainer wieder angreifen.
Ulli Wegner hat gern Leute um sich. Die unterhält er immer mit Geschichten. Von denen hat der Boxtrainer unzählige auf Lager. Doch wegen der Corona-Pandemie behält er die nun für sich, für ihn gilt erst recht das Kontaktverbot. Er zählt mit 77 Jahren und mit seinem Mitte Dezember erlittenen Oberschenkelhalsbruch zur Risikogruppe, Besuche fallen aus. „Zu gefährlich", sagt Wegner, „das Virus kennt keine Freunde." In der Rehaklinik Hoppegarten vor den Toren Berlins hat Wegner nur noch zu den Ärzten und Therapeuten Kontakt, ab und zu bringt ihm seine Frau Margret frische Sachen zum Anziehen. „Das war es dann aber auch", sagt Wegner. „Sie fehlt mir sehr. Aber meine Enkel kümmern sich rührend um sie." Für seinen Genesungsprozess ist es womöglich nicht das Schlechteste, dass Wegner viel weniger Ablenkung hat, als wenn seine Tür für die Besucher ständig offen stehen würde. „Jetzt ist es erst mal wichtig, dass ich gesund werde und wieder laufen kann", sagte Wegner dem Sport Informations-Dienst (SID). „Ich mache gute Fortschritte."
Zwei Wochen vor Weihnachten war die Trainer-Ikone in seinem Haus in Tegel gestürzt. Die Folge: Operation und eine mehrmonatige Reha. Anfangs konnte er sich nur mit einem Rollator bewegen, doch schnell schaffte Wegner das Laufen an Krücken. „Ich bin das Kämpfen gewöhnt, da hilft es mir, dass ich aus dem Sport komme", sagt er. Doch die Erfolge im Kampf um seine Gesundheit kommen viel langsamer. Es gebe „nur Minimalfortschritte", klagte Wegner in seiner ersten Zeit in Hoppegarten. „Ich werde sehr viel Geduld brauchen." Die Reha-Maßnahmen dauern lange – und sind anstrengend. „Auch wenn es manchmal schmerzt, ich muss da durch", sagt Wegner. Aufgeben war noch nie eine Option für ihn. Außerdem hat er auch beruflich noch einiges vor: „Mein Ziel ist es, noch einen Weltmeister herauszubringen."
„Ich werde sehr viel Geduld brauchen"
Diese Chance könnte schon sehr bald kommen – wenn Corona dem Boxtrainer nicht schon wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Am 20. Juni soll Wegner seinen Schützling Kubrat Pulew in einer „Mission Impossible" auf den Box-Thron führen. Im Fußballtempel des englischen Erstligisten Tottenham Hotspur trifft Pulew auf den britischen Dreifach-Weltmeister Anthony Joshua. Sollte der Schwergewichtskampf tatsächlich stattfinden, müsste Wegner alle Trainertricks auspacken und Pulew ein Lucky Punch gelingen. Ansonsten dürfte Joshua mindestens eine Nummer zu groß sein. Doch als Fallobst wird Pulew nicht in London antreten, dafür steht Wegner mit seinem guten Namen ein. „Ich übernehme eine große Verantwortung. Da geht es um Millionen Zuschauer und Millionen Euro", sagt er. „Ich würden den Job nicht übernehmen, wenn ich nicht der festen Überzeugung wäre, dass Kubrat durchaus die Fähigkeiten besitzt, den Ring als Sieger zu verlassen." Doch für einen Sieg gegen den Boxstar aus Großbritannien benötigt der Bulgare auch Wegners Hilfe. Der hat die Stärken und Schwächen des IBF-, WBA- und WBO-Weltmeisters ganz genau studiert. „Joshua liegt mit seinem Boxstil vor mir wie ein offenes Gesangsbuch", sagt Wegner. Sein Schützling habe nicht nur die Außenseiterchance, die im Profiboxen immer existiert. „Kubrat kann unheimlich hauen", sagt Wegner über die Schlagkraft des 38-Jährigen. „Wir müssen aber streng auf die Deckung achten."
Das hat bei Pulews erster WM-Chance so gar nicht geklappt. Im Fight vor sechs Jahren war die „Kobra" gegen Wladimir Klitschko ins offene Messer gelaufen. In der sechsten Runde wurde Pulew durch den vorzeitigen K. o. erlöst. „Es war eine harte Lehrstunde für mich", sagt Pulew rückblickend über die einzige Niederlage in 29 Profikämpfen: „So ein Fehler passiert mir nicht wieder." Dafür wird Wegner sorgen. Selbst in der Rehaklinik hat es sich der 77-Jährige vor der Corona-Krise nicht nehmen lassen, den Bulgaren zumindest taktisch zu schulen. Die Klinik-Chefs hätten sich als „große Sportfans" geoutet und ihm „die Möglichkeit der theoretischen Kampf-Vorbereitung in meinem Krankenzimmer" eingeräumt.
Ein Leben ohne Boxen – für Wegner undenkbar. „Die Vorstellung, nicht mehr Boxtrainer zu sein, ist für mich unheimlich schwer zu ertragen", gibt Wegner zu. Nach 103 WM-Kämpfen als Trainer am Ring, von denen seine Schützlinge 89 gewannen, fällt der Rückzug schwer. Trotz der vielen Triumphe – oder gerade deswegen. Wegner lockt aber nicht nur der süße Geschmack des Sieges. Das tägliche Training mit Boxern hält ihn körperlich und mental fit. „Niemand weiß, was rauskommt, wenn ich den ganzen Tag zu Hause sitze", äußert er vielsagend.
„Er beißt ganz schön auf die Zähne"
Für den Sauerland-Boxstall arbeitet Wegner aber nicht mehr, zum Jahresende wurde die Kündigung wirksam. Dagegen klagte Wegner, ein erster Gütetermin vor dem Landesarbeitsgericht war im Dezember gescheitert. Die große Erfolgsbeziehung von einst endet mit einer Schlammschlacht. „Wir waren ein großes Team – mit Fleiß und Stolz. Jetzt sagen sie, dass sie sich mich nicht mehr leisten können und das Gym auch nicht", sagte Wegner dem „Tagesspiegel". Er könne zwar verstehen, dass auch Sauerland in der Krise des Boxsports in Deutschland sparen müsse, „aber die Art und Weise ist abstoßend". Man merkt Wegner an, dass ihn die Trennung tief trifft. Da sei „einiges kaputtgegangen", sagt er. „Das tut mir in der Seele weh, da schäme ich mich gar nicht, das zuzugeben." Promotor Wilfried Sauerland ist bemüht, kein zusätzliches Öl ins Feuer zu gießen. „Erst mal soll Ulli nach dem Oberschenkelhalsbruch wieder gesund werden. Das wünsche ich ihm von ganzem Herzen", sagt Sauerland. Man telefoniere regelmäßig und sei angeblich „freundschaftlich miteinander verbunden". Für den Streit vor dem Arbeitsgericht hat Sauerland aber kein Verständnis: „Ulli hat bei uns Millionen verdient, jetzt streitet er um verhältnismäßig wenig Geld, einige Tausend Euro."
Zu seinen früheren Boxern hat Wegner ein deutlich besseres Verhältnis. Als der Coronavirus noch nicht in Deutschland grassierte, hatten ihn die Ex-Weltmeister Marco Huck und natürlich Arthur Abraham besucht. Abraham, der mit Wegner zahlreiche Schlachten geschlagen hat, postete von dem Besuch ein Bild auf Instagram und kommentierte es mit den Worten: „Gute Besserung für den besten Trainer der Welt. I love you forever!!!" Auch in der Rehaklinik hat sich Wegner viel Respekt verschafft. „Es ist beachtlich, wie Herr Wegner ohne Diskussion alles annimmt. Umso beachtlicher, da er immer Leute angeleitet hat", sagte Chefarzt Dr. Matthias Krause der „B.Z.": „Er beißt ganz schön auf die Zähne." Wegners Ziel ist es, wieder schmerzfrei an den Ring zu marschieren und dort noch mal einen Boxer zum Sieg zu coachen. Vorher steht aber am 26. April sein 78. Geburtstag an.