Im Schwergewicht herrschen momentan drei Boxer: Anthony Joshua, Tyson Fury und Deontay Wilder. Es läuft alles auf den großen Showdown zwischen Joshua und Fury hinaus – wenn die Herausforderer mitspielen.
Eine Box-Ära endete mit dem letzten Kampf von Wladimir Klitschko. Der Ukrainer hatte die Boxwelt mit seinem Bruder Vitali beherrscht, über Jahre gab es keinen, der es mit ihnen auf lange Sicht aufnehmen konnte. Als Vitali sich aus dem Boxgeschäft verabschiedete, hielt sein kleiner Bruder alleine die Fahne oben, musste aber wie jeder andere große Boxer vor ihm dem Alter Tribut zollen. Er wurde langsamer, berechenbarer. Die Power der vergangenen Jahre war weg – und es drängten andere Boxer ins Rampenlicht. So war es Skandalnudel Tyson Fury, der Klitschko im Jahr 2015 absolut verdient nach Punkten in die Knie zwang. Klitschko wirkte ideenlos und langsam. Ein Rückkampf zerschlug sich, da Fury danach mit einer Alkohol- und Drogensucht zu kämpfen hatte und eine Zeit lang von der Bildfläche verschwand. Langsam aber stetig stieg dann ein junger Ausnahmeathlet empor, der Klitschko zumindest in Sachen Physis ähnlich war. Anthony Joshua, im Gegensatz zu Fury ein Koloss ohne auch nur ein Gramm Fett, hatte die Ehre, im letzten Kampf Klitschkos als Hauptakteur mitzuwirken. Denn da standen sie nun im Londoner Wembley-Stadion im April 2017. Der alte König und der neue. Der Kampf ging in die Geschichtsbücher ein, Klitschko streckte Joshua in der sechsten Runde spektakulär nieder, dieser rappelte sich jedoch auf und meldete sich danach furios zurück und schickte Klitschko selbst in der elften Runde auf die Bretter. Der Triumph war perfekt, und das Schwergewicht hatte einen neuen König. Doch im Hintergrund schraubte Tyson Fury an seinem Comeback, kam zurück und musste gegen den ungeschlagenen Deontay Wilder in den Ring. Beide blieben ohne Niederlage in diesem Kampf, ein höchst umstrittenes Urteil, da Fury der klar bessere Boxer war. Unentschieden. Danach passierte viel. Joshua unterlag völlig überraschend dem Mexikaner Andy Ruiz und verlor alle seine Gürtel – nur um sie sich abgeklärt und völlig unterkühlt in Saudi-Arabien beim Rückkampf wiederzuholen. Zwischen Fury und Wilder gab es ebenso einen Rückkampf, den Fury souverän für sich entschied. Die Manager der beiden dachten sich scheinbar, dass aller guten Dinge drei sind – und planten für Sommer dieses Jahres deren dritten Kampf. Joshua soll auf Kubrat Pulev treffen, zumindest dann, wenn Sportveranstaltungen aufgrund der Corona-Krise nicht mehr aussetzen müssen.
Nach Eskapaden verschwand Fury von der Bildfläche
Fakt ist aber: Wenn die Kämpfe ausgetragen werden können, wird einer dieser drei Boxer alle Gürtel des Schwergewichts vereinen. Experten rechnen mit dem finalen Showdown zwischen Fury und Joshua, Außenseiterchancen oder den Durchbruch von Deontay Wilder halten viele für unwahrscheinlich. Doch wer sind eigentlich die Boxer, die momentan das Schwergewicht dominieren. FORUM hat sie genauer unter die Lupe genommen:
Anthony Joshua
Mit 18 Jahren gewinnen Weltklasse-Sportler schon mal internationale Titel und verdienen Millionen. Im gleichen Alter öffnet Anthony Joshua zum ersten Mal die Tür eines Boxclubs im Londoner Norden. Sein Cousin hat ihn zu einem Probetraining überredet, und da steht er nun: Joshua, der 1,98-Meter-Mann, der nur Faxen im Sinn hat. Der Trainer wird sich später an Joshuas erste Tage so erinnern: „Er lachte die ganze Zeit. Ich dachte, er wäre auf Crack." Zwei Jahre später gewinnt Joshua, der anfangs so undiszipliniert schien, die ersten Titel. Fünf Jahre später holt er eine olympische Goldmedaille. Dann wird er zum Maß aller Dinge. Bevor es so kommt, steht Joshuas Karriere aber auf der Kippe. Nach einer Schlägerei sitzt er in Untersuchungshaft, später entdecken Polizeibeamte Marihuana in seinem Auto. Joshua, der bei seiner Verhaftung den offiziellen Trainingsanzug der britischen Olympiamannschaft getragen haben soll, droht eine Gefängnisstrafe. Doch er kommt mit Sozialstunden davon. Später wird Joshua vom „endgültigen Wendepunkt in meinem Leben" sprechen. Seine Box-Karriere nimmt jetzt Fahrt auf, was er auch dem britischen Sportförderungssystem zu verdanken hat. Für die Olympischen Sommerspiele 2012 investieren die Briten Millionen in ihre Sportler. Und Joshua zahlt es ihnen mit einer Goldmedaille zurück. Danach nahm seine Karriere dann ihren Lauf, und er lernte die Höhen und Tiefen des Boxens kennen. Er verlor krachend gegen den Außenseiter Ruiz, schnappte sich dann wieder alle Gürtel im Rückkampf. Viele sehen in ihm den König des Schwergewichts – er hat alle Möglichkeiten, diesen Erwartungen gerecht zu werden.
Tyson Fury
Der Schwergewichtsboxer Tyson Fury hat im Leben mehr Tiefschläge kassiert als Treffer gesetzt. Doch im Ring scheint er unschlagbar: Nie hat Fury einen Boxkampf verloren. Er besiegte Wladimir Klitschko, war Weltmeister aller vier Verbände, wurde wegen Dopings gesperrt, verfiel den Drogen und wurde depressiv. Mit 29 Jahren trat er vom Boxsport zurück, fiel in ein Loch. Nun ist er zurück und schielt auf den großen Thron. Tyson Fury wird in Manchester in eine Familie irischer Fahrender geboren. Die Eltern erziehen ihn streng katholisch, sind aber hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. Sie verprügeln sich gegenseitig. Der Vater muss wegen einer Schlägerei fünf Jahre ins Gefängnis. 14-mal ist die Mutter schwanger, nur vier Kinder überleben. Fury lernt früh, sich zu wehren – und zu boxen. Trainiert wird er vom Onkel, einem mehrfach verurteilten Drogenbaron.
2011 sagt Fury in einem Interview des „Guardian": „Die Leute verstehen unseren Lebensstil nicht, es ist alles anders. Wir haben dieselbe Hautfarbe, wir sprechen dieselbe Sprache, aber im Inneren sind wir ganz anders. Wir sind Aliens." Es hinderte ihn nicht daran, britischer Meister zu werden und in den Box-Olymp aufzusteigen. Skandale inklusive: Doping-Vergehen, frauenfeindliche Aussagen und Homophobie. Als er unter Drogen und Alkohol litt, wog er zwischenzeitlich 170 Kilogramm, nur um dann wieder 50 Kilogramm abzunehmen und zurückzukommen. Erstmals seit dem Sieg gegen Klitschko steht Fury wieder im Ring. Es ist eine Farce: Der Gegner Sefer Seferi gibt in der vierten Runde auf. Er hat gegen den ehemaligen Schwergewichtsweltmeister keine Chance. Seferi, der sonst im Cruisergewicht anritt, hat die Qualität eines Sparringspartners. „Ich hätte ihn nach zehn Sekunden umhauen können", sagt Fury anschließend. Seitdem ist viel Zeit vergangen, und wenn es jemandem zuzutrauen ist, noch einen draufzusetzen, dann ist es Tyson Fury. Es wäre das verrückte Ende einer verrückten Karriere.
Deontay Wilder
„Eines Tages werde ich Schwergewichtsweltmeister sein. Ich sage nicht, dass ich sein werde wie Muhammad Ali – das werde ich niemals. Aber wenn es so weit ist, erinnert euch daran, dass ich es prophezeit habe", sagte Wilder. Schwergewichtsweltmeister wurde er – Prophezeiung erfüllt. Der hochgewachsene Junge aus Tuscaloosa peilte nach dem Highschool-Abschluss eine Karriere als Football- oder Basketballprofi an. Seine athletische Figur, ein Gardemaß von 2,01 Metern und sein unbedingter Wille öffneten ihm die Türen. Zumindest bis zu jenem Tag, an dem das Schicksal beschloss, selbige mit einem lauten Knall zuzuschlagen. Zusammen mit seiner Freundin Helen erwartete Wilder eine Tochter. Eine Nachricht der Ärzte nach einer Routineuntersuchung, riss dem damals 19-Jährigen den Boden unter den Füßen weg: Sein ungeborenes Mädchen war schwer krank, litt unter Spina bifida, einer Fehlbildung der Wirbelsäule, die je nach Ausprägung zu einer erheblichen Beeinträchtigung führen kann und betroffene Personen nicht selten an den Rollstuhl fesselt.
„Sie sagten uns, dass wir diesen Weg nicht gehen müssen", erinnerte sich Wilder Jahre später an die Worte der Mediziner. Die Ärzte waren sich nicht einmal sicher, ob das Kind überhaupt selbstständig atmen könnte. Eine Abtreibung kam trotzdem nicht infrage. „Ich bin ein sehr gläubiger Mensch, glaube von ganzem Herzen an Gott", so der US-Amerikaner: „Jeder Mensch, der auf diese Welt kommt, hat das Recht auf Leben. Niemand kann in die Zukunft blicken, jedes Kind verdient eine Chance." Es sollte eine Entscheidung mit Folgen sein. Statt seine Karriere als Sportler voranzutreiben, änderte Wilder sein gesamtes Leben. Das College war Geschichte, zuweilen arbeitete er in mehreren Jobs zugleich, um die hohen Kosten für die medizinische Betreuung seiner Tochter Naieya zu decken. Eine Ausbildung hatte er nicht.
Es waren Opfer, die er gern brachte. Entgegen aller Erwartungen trotzte Naieya sämtlichen Widrigkeiten. Stets begleitet von Operationen, Schmerzen und Rückschlägen lernte sie zu krabbeln und später zu gehen. Der Kampf um ein normales Leben, den sie von ihrer Geburt an führte, sorgte für Inspiration. „Sie ist eine Kämpferin", sagt der stolze Vater: „Das hat sie definitiv von mir." Die Zeit der Veränderung führte bei Wilder zu einem neuen Traum – als Boxer. Und diesen lebt er mittlerweile aus und hat nun zudem die Chance, den Thron zu erklimmen.