Die Corona-Krise hat auch dem geschäftigen Lesungsbetrieb in Deutschland zugesetzt. Neben vielen spontanen Lösungsansätzen setzt mittlerweile aber auch hier eine „neue Normalität" ein: Autoren organisieren sich selbst, Festivals steigen auf digital um – und Lesungen unter freiem Himmel boomen.
Als viele Leser in den ersten Wochen der Pandemie noch zu Klassikern wie „Die Pest" oder „Das Dekameron" griffen, hatte ein Grüppchen Literaturbegeisterter via Social Media schon den passenden Namen für ein neuartiges Projekt gefunden: „Viral" hieß die Lesereihe, die Donat Blum, Kathrin Bach und Melanie Katz wie über Nacht organisierten und die ausschließlich per Facebook-Stream kostenlos Lesungen direkt aus den Wohnzimmern von Autorinnen und Autoren aus dem gesamten deutschsprachigen Raum anbot. Spenden waren willkommen, um dem Programm von immer vier bis fünf Lesenden pro Abend eine, wenn auch eher symbolische Entschädigung zukommen zu lassen. Die Mischung war bunt: Neben schon etwas bekannteren Namen der jungen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wie Helene Bukowski, Isabelle Lehn und Benjamin Maack lasen Absolvierende des Literaturinstituts Leipzig oder noch völlig unbekannte Autoren, die gerade ihre ersten Texte in Literaturzeitschriften veröffentlicht hatten. Zusätzlich zu den – zum jetzigen Stand – 24 regulären Ausgaben wurden auch Kooperationen geschaffen, etwa mit der studentischen Lesereihe zwischen/miete Stuttgart, dem Berner Lesefest Aprillen oder dem Berliner Metamorphosen-Magazin. Eine Qualität von Online-Lesungen wird damit deutlich: die Entgrenzung. Auf einmal war es für alle Zuhörenden möglich, etwa einer Lesung in Bern zu folgen, die sonst vielleicht nur Eingeweihte besucht hätten.
Künstliche Verknappung für den Live-Moment
Aber auch die klassischen Lesungsorte haben gelernt, mit den neuen Bedingungen umzugehen, als einer der ersten das Literaturhaus Berlin. Nachdem die Leiterinnen Janika Gelinek und Sonja Longolius bereits erste Veranstaltungen als Tonaufzeichnung auf ihre Homepage gestellt hatten, entschlossen sie sich bald zum nächsten Schritt: Ein eigener Podcast des Literaturhauses, „Call for Fiction" wurde zusammen mit dem Literaturlabel Kabeljau & Dorsch produziert und in sechs Folgen ausgeliefert. Der „auditive Kettenbrief", der direkt auf die Folgen der Pandemie zu reagieren versuchte und in dem überlegt wurde, mit welchen Mitteln die Literatur auf die neuartige Situation eingehen kann, versammelte die Stimmen von jungen Autorinnen und Autoren. Darunter Juan Guse und Katharina Hartwell, aber auch Menschen aus dem Literaturbetrieb wie Hanser-Lektor Florian Kessler. Pluspunkt für das Literaturhaus: Der mit dem eigenen Schriftzug gebrandete und über die sozialen Medien verbreitete Podcast hat das Potenzial, ganz neue Publikumsschichten auf das Literaturhaus aufmerksam zu machen und für das Programm zu interessieren.
Einer ganz anderen Herausforderung sah sich das Literaturfestival „Prosanova" gegenüber, das nur alle drei Jahre in Hildesheim stattfindet und das einzige seiner Art ist. Neue Formate auszuprobieren, die Grenzen der klassischen Lesung zu sprengen und Literatur einen Erlebnischarakter zu verleihen, ist das erklärte Ziel der Festivalmacher, viele von ihnen Studierende des Instituts für Kreatives Schreiben der Universität Hildesheim. Eigentlich war schon ein Ort gefunden, die Planung für das Festivalgelände konnte beginnen – dann kam Corona. Schnell wurde umdisponiert und mit viel Einsatz ein Festival, das eigentlich auf vier volle Tage Programm inklusive Partynächten und Konzerten angelegt war, auf das digitale Medium umgestellt. Das bedeutete auch einen besonderen Fokus auf die Qualität: So unterscheidet sich das Endergebnis von vielen anderen digitalen Lesungen, die oft mit Wacklern, Verbindungsaussetzern und schlechter Tonqualität zu kämpfen haben. Ein Großteil der geplanten Lesungen und Performances wurde mit professionellem Equipment vorab aufgezeichnet und erst hintereinander, getreu dem ursprünglichen Timetable des Festivals freigeschaltet – anschließend wurde die Homepage wieder geschlossen. Ein mutiger Schritt: Denn auf diese Weise der künstlichen Verknappung wurde ein Live-Moment geschaffen, der vielleicht zumindest teilweise die Festival-Stimmung ersetzen konnte.
Open-Air-Formate holen die Lesung aus ihrem traditionellen Milieu
Irgendwann musste es doch einmal Sommer werden: Das dachte sich vermutlich das Haus der Kulturen der Welt in Berlin, als die Reihe „20 Sunsets" ins Leben gerufen wurde. Mit Voranmeldung, großzügiger Bestuhlung und einer Besucherhöchstzahl wagt das Haus seit Mitte Juli wieder eine „echte" Veranstaltungsreihe – unter freiem Himmel, möglich dank der großzügigen Außenterrasse, die Teil des architektonischen Ensembles der „schwangeren Auster" ist. Hier werden Filme gezeigt, Konzerte und Lesungsperformances veranstaltet und das langsame Zusammenkommen des Publikums wieder zelebriert. Ein Glücksfall: Wem der Gang in enge Kneipen noch zu unsicher ist, der kann hier wieder durchatmen. Einen Livestream gibt es konsequenterweise nicht. Fast alle Veranstaltungen waren bis jetzt lange im Voraus ausgebucht, was die Sehnsucht nach dem „echten" Lesungserlebnis vielleicht doch noch einmal unterstreicht.
Eine Revolution des Lesens also? Eher viele kleine Revolutionen: Der Lesungsbetrieb hat sich durch die Folgen der Pandemie definitiv geändert. Spontane Allianzen sind entstanden, die die Akteure näher zusammenrücken lassen und dem Publikum virtuell ganz neue Räume eröffnen. Auch „herkömmliche" Lesungsorte konnten profitieren, und neue Veranstaltungsformate unter freiem Himmel tragen dazu bei, dass man wieder zusammenkommen und gemeinsam Kultur und Literatur erleben kann. Auch zukünftig sollten diese Erfahrungen genutzt werden. Denn ist es nicht insbesondere für kleinere Veranstaltungsorte mit niedrigem Budget attraktiv, das Geld für das Flugticket eines Autoren einzusparen und den oder die Lesende „im virtuellen Raum" zu präsentieren? Zudem bieten die neuen Open-Air-Formate die Chance, die klassische Wasserglas-Lesung aus ihrem angestammten Milieu herauszuholen und so ein möglicherweise heterogeneres Publikum anzusprechen.