Im Tischtennis ist auf der internationalen Bühne ein Machtkampf entbrannt – mit noch nicht absehbaren Auswirkungen auf die Zukunft des Sports und womöglich auch die Bundesligen. Stars wie Timo Boll oder auch Top-20-Spieler Patrick Franziska vom Deutschen Meister 1. FC Saarbrücken-TT geraten zunehmend zwischen die Fronten.
Tischtennis gilt als ausgesprochen faire Sportart. Wenn in der Szene allerdings von Boykott und sogar Erpressung die Rede ist, muss der Baum brennen. Tatsächlich erscheint die Beschreibung der Situation nicht übertrieben: Hinter den Kulissen ist ein brutaler Machtkampf um Einfluss und nicht zuletzt natürlich Geld entbrannt. Vom Ausgang der mit harten Bandagen auch auf dem Rücken internationaler Stars wie den deutschen Assen Timo Boll (Düsseldorf) oder Patrick Franziska (Saarbrücken) geführten Auseinandersetzung hängt ab, welches Erscheinungsbild der Sport in Zukunft haben wird – und auch zumindest der weitere Stellenwert der Bundesligen.
Im Mittelpunkt steht der Streit um die künftige Ausrichtung. Sinnbildlich schmettern sich der Weltverband und die erst im vergangenen Frühjahr von der ITTF selbst initiierte Turnierserie WTT die Bälle um die Ohren. Innerhalb kürzester Zeit hat die WTT ein zunehmend bedrohlich wirkendes Eigenleben entwickelt und strebt ganz offenkundig nach der im Gründungsakt zugestandenen Kontrolle über sämtliche kommerzielle Einnahmen ihrer Wettbewerbe auch die Entmachtung ihrer „geistigen Väter" bei der ITTF an.
Dabei erschienen die Pläne für das Zusammenspiel von ITTF und ihrem „Baby" WTT vielversprechend – für die Fans, für die Spieler, für den Sport. Zur Modernisierung seines bisherigen World-Tour-Turniersystems ab 2021 entwickelte die ITTF eine Rahmenstruktur nach Vorbild des „großen Bruders" Tennis. Als Clou dachten sich die Macher die Einführung von vier übergeordneten und auf fast zwei Wochen ausgelegten Turnieren für die Crème de la Crème in Anlehnung an Grand-Slam-Tennisturniere wie Wimbledon mit Preisgeld in Höhe von in der Tischtennis-Welt noch nicht gesehenen drei bis vier Millionen Dollar aus (sogenannte Grand Smashes). Ebenfalls vom Tennis abgeschaut sind der pyramidenartige Aufbau der neuen und natürlich mit der Weltrangliste verknüpften Turnierserie zur Förderung von Aktiven aus den Kategorien unterhalb der absoluten Weltspitze sowie ein Jahresendturnier mit den 16 Besten einer WTT-Saison. Die wichtigsten Turniere sollen durch spektakuläre Inszenierungen an außergewöhnlichen Schauplätzen in der öffentlichen Wahrnehmung zusätzlich aufgewertet werden.
Eher Verschärfung als Entzerrung der Terminproblematik
Die Logik des neuen Systems aber diktiert den Elitespielern geradezu Teilnahmen an den Grand Smashes über eine Aufstockung der entsprechenden Weltranglistenpunkte und ermöglicht den Aufstieg in den Kreis der für die „Zahltage" infrage kommenden Kandidaten praktisch nur durch die „Ochsentour" über die unterklassigeren Wettbewerbe. Deswegen werteten Insider das als Entzerrung des Kalenders angepriesene Projekt schnell als Verschärfung der Terminproblematik.
Die Diskussionen drehen seither um zusammengeschmolzene Spielzeiten für die traditionellen WM- und EM-Turniere einerseits sowie Bundesliga- und Champions-League-Veranstaltungen andererseits. Für Profis außerhalb der Spitze sind die Vereine in Europa die wichtigsten Geldgeber. Zur Lösung des gordischen Knotens verstieg sich ITTF-Vorstandschef Steve Dainton, in Personalunion auch WTT-Direktor und damit pikanterweise Diener zweier Herren, zu dem Vorschlag einer Abschaffung der WM trotz des großen Prestiges der wichtigsten Titelkämpfe nach Olympia-Turnieren.
Dann kam Corona – und durch die Pandemie gerieten die Vorbereitungen für die neue Zeitrechnung im Tischtennis-Zirkus ins Stocken. Bis heute konnte die WTT, bei der mittlerweile der früher beim Fußball-Weltverband Fifa wirkende Sportstratege Philippe Le Floc’h in verantwortlicher Position angeheuert hat, noch keinen Veranstalter für auch nur eines ihrer millionenschweren Grand-Smashes-Turniere präsentieren. Weil aber eben Millionen auch für Macher auf dem Spiel stehen und Interesse für die neue Serie geweckt werden muss, nutzte die WTT die Bemühungen des Weltverbandes für einen Restart des internationalen Spielbetriebs hinter den Kulissen zu eigenen Zwecken und erreichte auf fragwürdige Weise eine völlig unabgestimmte Ansetzung von hochkarätigen Turnieren im November in China als faktische Werbeveranstaltung für die ab kommendem Jahr geplanten WTT-Wettbewerbe – gegen den Willen des deutschen ITTF-Präsidenten Thomas Weikert und der Aktivenvertreter mit Topstars inklusive.
An dieser Stelle kommen Boll, Franziska und Co ins Spiel. Die kurzfristig anberaumten Turniere im Reich der Mitte mit ihren wochenlangen Quarantänezeiten bei der Einreise nach und Rückkehr aus China kollidieren mit lange vorher angesetzten Spielen ihrer Vereine und Arbeitgeber. Durch Intrigen von WTT-Gewährsleuten in der ITTF-Spitze wie auch dem selbsternannten „WM-Killer" Steve Dainton ist ein Verzicht auf die Teilnahme an den Restart-Turnieren in der chinesischen „Bubble" auch ohne Rücksicht auf die besonderen Umstände der Corona-Zeiten gleichbedeutend mit dem Verlust von Weltranglistenpunkten – wenige Monate vor Olympia 2021 in Tokio für jeden Topspieler ein großes Opfer. Entsprechend saßen die Asse plötzlich zwischen allen Stühlen: auf der einen Seite die vertraglichen Verpflichtungen bei ihren Clubs und auf der anderen Seite ihr persönliches Interesse an möglichst guten Ausgangspositionen für das olympische Turnier.
Die Stars werfen den Turniermachern Erpressung vor
Kein Wunder, dass gut zwei Dutzend europäische Spitzenspieler mit Boll an der Spitze in einem Protestbrief an
die ITTF ihren Boykott der „Bubble"-Turniere erklärten und den Machern wörtlich „Erpressung" vorwarfen. Ende September liefen Verhandlungen zwischen der ITTF, Spielern und Vereinen über eine Lösung auf Hochtouren. Doch ganz offenkundig ist der Streit nur ein Nebenschauplatz: Vielmehr streben die WTT-Bosse mittlerweile nahezu völlig unverhohlen die Übernahme der kompletten Macht im Welt-Tischtennis an. Der nur vermeintlich harmlose Vorstoß von „Doppelagent" Dainton, eine anschließende Attacke eines katarischen ITTF-Vizepräsidenten gegen Weikert wegen angeblicher, aber auch auf Mediennachfrage nicht näher beschriebener Fehler in der Corona-Krise und schließlich die hinterlistige Kaltstellung des ITTF-Chefs bei der Abstimmung über den Umgang mit den Spielerinteressen bilden eine Indizienkette, die einen Schluss zumindest nahelegt: Die mutmaßlich im Hintergrund auch von Scheich-Millionen aus Katar finanzierte WTT-Organisation, in der Le Floc’h zunehmend seine bei der korrupten Fifa-Organisation erworbenen Kenntnisse anwendet, bereitet in der ITTF einen wahrhaftigen Putsch von innen heraus vor.
Ein erfolgreicher Umsturz hätte massive Auswirkungen. Machtpolitik lautete dann die Devise statt Interessenausgleich. Wiederum ähnlich wie im Tennis würde die ITTF außerdem bestenfalls nur noch für internationale Mannschafts-Wettbewerbe und die Organisation der olympischen Wettbewerbe zuständig sein, während die WTT das ganz große Geschäft mit populären Turnieren machen könnte.
Wie sehr jedoch die Konzentration auf das „Big Business" einen Sport auch zersetzen kann, ist ausgerechnet bei dem ursprünglich als Vorbild auserkorenen Tennis seit Jahren zu beobachten: Die stärksten Spieler fokussieren sich nur noch auf die bestdotierten und prestigeträchtigsten Turniere des Jahres, während die Durchschnittsprofis von einem mittelmäßigen Turnier zum anderen durch die Welt tingeln und mitunter nicht einmal ihre Reisekosten decken können.
Für die Vereine gerade auch in Deutschland wäre eine solche Entwicklung existenzbedrohend. Finden sich wegen der Terminzwänge in der WTT-Serie nicht mehr genug Spieler oder nur noch B-Klasse-Aktive und zudem nicht mehr ausreichend Spieltermine, droht dem Geschäftsmodell des Oberhauses mit der Präsentation von Topspielern vor der Haustüre als Kernkonzept das Aus. Auf Rückendeckung für das ohnehin hauptsächlich auf Europa begrenzte Ligenmodell durch die radikalen WTT-Manager zu setzen, wäre eine trügerische Hoffnung.