Autogerechte Städte oder Wohnen mit mehr Lebensqualität? In Europas Großstädten hat die Verkehrswende begonnen.
Die Zahlen sprechen für sich: auf 1.000 EU-Bürger – Säugling oder Greis – kommen 569 Autos. Das ist nur damit zu erklären, dass viele zwei, manche drei und einige keines haben: 48 Millionen Pkw fahren in Deutschland herum. Wenn sie denn fahren können. Denn auch ohne dass die Klimaaktivisten die Berliner Stadtautobahn blockieren, kommt es täglich zu Staus. Am Ziel angekommen, steht das Gefährt dann acht oder zehn Stunden unbenutzt auf irgendeinem Parkplatz, auf dem sonst Bäume wachsen oder Kinder spielen könnten.
Autos brauchen 14-mal mehr Platz als zum Beispiel eine Straßenbahn. Gemessen am Gemeinwohl stellt insbesondere der ruhende Verkehr den „funktional am wenigsten notwendigen und damit am ehesten zu verlagernden" (Agora-Institut) Nutzungsanspruch an den Straßenraum dar. In vielen Städten übersteigt die Nachfrage nach Autostellplätzen das vorhandene Angebot. Rad- und Gehwege werden beispielsweise durch das Parken in zweiter Reihe beeinträchtigt, Fußgänger zu Umwegen gezwungen und die Sicht von Radfahrern eingeschränkt. Doch mehr und mehr Kommunen verfügen über wirkungsvolle Instrumente und Maßnahmen, mit denen sie den Flächenverbrauch spürbar reduzieren und die Flächennutzung gezielt steuern können: zum Beispiel das Parkraummanagement und die Förderung von Carsharing. Die Innenstadt von Köln ist gar nicht zu erreichen, wenn man nicht ein Parkhaus anfährt.
Carsharing und Superblocks
Andere gefährliche „Nebenwirkungen" der autogerechten Stadt werden immer noch toleriert: Gesundheitsschädliche Abgase und Lärm, gerade in den Vierteln, wo Menschen mit niedrigem Einkommen leben. Weil dort die Schnellstraßen durchführen, sind die Mieten niedrig. Dass es auch ohne Auto geht, wollen einige europäische Metropolen beweisen. In Paris, Kopenhagen, Barcelona, London oder Berlin hat das Umsteuern begonnen.
Kopenhagen – die dänische Hauptstadt nennt sich stolz und selbstbewusst „Verdens bedste cykelby" – weltbeste Fahrradstadt. Die Verkehrswende zugunsten der Sicherheit von Radfahrern hat sie schon lange hinter sich – das Resultat sind Radwege, die oft fast so breit sind wie die Autospuren. Mehr Fahrräder als Autos fahren täglich durch die Innenstadt, knapp die Hälfte der Wege zur Arbeit, zur Uni und zur Schule werden per Rad zurückgelegt. Täglich radeln die Kopenhagener somit mehr als 1,4 Millionen Kilometer – Tendenz steigend. Die etwa 630.000 Einwohner besaßen 2020 mehr als 730.000 Fahrräder, aber nur rund 130.000 Autos. Das reicht den dänischen Hauptstädtern aber nicht, die Infrastruktur soll weiter verbessert werden. Ein Ziel: 2025 soll niemand mehr im Kopenhagener Straßenverkehr umkommen. Passenderweise will die Stadt bis zu dem Jahr auch CO2-neutral werden. Dabei zählt Kopenhagen schon heute zu den Städten mit der höchsten Lebensqualität weltweit – auch dank seiner Radinfrastruktur.
Barcelona – die katalanische Metropole mit ihren 1,6 Millionen Einwohnern soll nach dem Willen der Stadtverwaltung ruhiger, sicherer und grüner werden – und setzt dabei seit 2016 auf stark verkehrsberuhigte „Superblocks". Dabei werden immer mehrere Häuserblocks zu einer Einheit mit rund 500 Metern Außenlänge zusammengefasst. Der erste Superblock entstand anfangs noch gegen Widerstände von Geschäftsleuten und Autofahrern, doch mit großem Zuspruch der Anwohner. In den bisher gestalteten Superblocks, die im gesamten Stadtgebiet entstanden sind, ist das befürchtete Geschäftssterben ausgeblieben. Im Gegenteil: Die Anzahl der lokalen Läden stieg sogar um 30 Prozent. Neben dem Lieferverkehr dürfen nur Anwohner in die Superblocks hineinfahren. Geparkt werden muss in Tiefgaragen, Parkhäusern oder notfalls außerhalb. Die schachbrettartig angelegten Straßen bleiben zwar erhalten, werden im Inneren dieser auf katalanisch Superilles genannten Inseln aber stark verkehrsberuhigt und begrünt. Es gehe um nicht weniger als „die Rückeroberung der Straße" durch die Menschen, schrieb die Zeitung „El País". Fußgänger müssen sich nicht mehr auf schmalen Bürgersteigen zwischen parkenden Autos drängeln. Das Tempolimit (auch für Radfahrer und E-Scooter) in den Blocks ist auf 10 bis 20 Kilometer pro Stunde begrenzt. Ein Problem ist, dass die Mieten steigen, sobald bekannt wird, dass ein Viertel verkehrsberuhigt wird. Das verdrängt die ärmeren Bevölkerungsschichten.
Paris – die Corona-Krise gab den Bemühungen nochmals richtig Aufschwung, mehr Radfahrrouten quer durch Frankreichs Metropole zu schaffen. Viele der mit Betonblöcken provisorisch geschaffenen „Coronapistes" genannten Pop-up-Radwege werden seitdem in dauerhafte Radfahrstreifen umgebaut. Außerdem wurde im Herbst fast flächendeckend im Stadtgebiet Tempo 30 eingeführt, einige Hauptachsen ausgenommen. Kontrolliert und beachtet wird die neue Regel zwar wenig und oft stockt oder staut sich der Autoverkehr ohnehin, die Maßnahme gilt aber als Symbol für eine Verkehrswende, die Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die auch für die französische Präsidentschaft kandidiert, seit Jahren vorantreibt. Doch die Verkehrswende stößt auch auf Widerstand. Handwerker und Lieferanten etwa klagen, dass sie oft nicht mehr in der Nähe ihrer Kunden parken können und sich Strafzettel anhäufen. Eine autofeindliche Politik wird Hidalgo vorgeworfen und schon im Pariser Umland, das nicht mehr durch die Metro erschlossen ist, stoßen geplante Maßnahmen wie Beschränkungen auf der Stadtautobahn auf Widerstand. Ein Paradies für Radfahrer ist Paris durch mehr Radwege nicht geworden. Zu tief verankert ist im französischen Fahrstil, auf das Recht des Stärkeren zu bauen.
Lastenräder und Cargo-Bikes statt schwere Trucks
Berlin – wie in Paris „poppten" im Zuge der Pandemie auch in Berlin zahlreiche Radwege an Hauptstraßen auf, abgetrennt wurde zumeist eine von zwei Autospuren. Oft rollen die Radfahrer, die immer mehr werden, nun an langen Autoschlangen vorbei: Etwa auf dem Kottbusser Damm, dessen eine Fahrspur ohnehin immer in zweiter Reihe zugeparkt war. Oder auf der Kantstraße, wo nun auch ein Modellprojekt für nachhaltigen Lieferverkehr starten soll: Lastenräder, Cargo-Bikes, Klein-Lkw mit Elektroantrieb sollen die schweren Trucks ersetzen. In der Schöneberger Maaßenstraße ist der halbe Fahrweg mit Bänken, Spielgeräten und Pollern zugestellt. Hier kann man Kaffee trinken, die Pizza auf der Hand essen oder einfach die Ruhe genießen. Versenkbare Poller am Straßenanfang sorgen dafür, dass im Notfall ein Rettungs- oder Umzugswagen durchkommt. Noch viel mehr solcher autofreien „Oasen" in dicht besiedelten Wohnkiezen wünscht sich auch Berlins neue Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne). Aus ihrer Sicht sollten mehr Berliner ihr Auto freiwillig stehen lassen oder gleich ganz abschaffen. Auch ein bisschen Druck soll helfen: Das Parken müsse vielerorts gebührenpflichtig oder verteuert werden, sagte sie im RBB.
London – Bürgermeister Sadiq Khan will die Autokilometer in der britischen Hauptstadt bis 2030 um gut ein Viertel reduzieren – als Teil des Plans, London bis zum Ende des Jahrzehnts klimaneutral zu machen. Khan ist aktuell Vorsitzender der Initiative C40 (Cities Climate Leadership Group), in der ambitionierte Städte in aller Welt im Kampf gegen die Klimakrise zusammenarbeiten. Ein Auto-Pendler, der täglich unterwegs sei, verbringe im Jahr durchschnittlich mehr als 150 Stunden im Stau, also mehr als sechs Tage, rechnete Khan vor. Ein Ausbau der Radwege soll Autofahrten überflüssig machen. Außerdem sollen die Niedrig-Emissionszonen, in die bestimmte Fahrzeuge nicht fahren dürfen oder für die Gebühren anfallen, ausgeweitet werden. Der sozialdemokratische Politiker kämpft seit Jahren für die Verbesserung der Luftqualität. Darin sieht er auch eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Die ärmsten Londoner lebten in den Vierteln mit der schlechtesten Luft, sagte Khan – dabei besäßen sie pro Kopf die wenigsten Autos.