Abschreckung oder Anreiz? Die Bundesregierung will mit einem günstigen Ticket die Bürger angesichts der hohen Energiepreise entlasten. Die Bahnbetreiber fühlen sich belastet.
Für neun Euro von Stuttgart nach Hamburg? Geht das? Ab 1. Juni soll das drei Monate lang möglich sein. Einziger Nachteil: Es dauert ein bisschen länger, weil man nur Regionalbahnen benutzen darf. Geht es nach den Plänen der Bundesregierung und des Berliner Senats, kann jeder Bundesbürger drei Monate lang – vom 1. Juni bis zum 31. August – für weniger Geld als der aktuelle Stundenlohn hoch ist und in Berlin sogar für null Euro Busse und Bahnen nutzen. Die Aktion „Neun für 90" soll den öffentlichen Nahverkehr als umweltfreundliche Alternative zum Auto bewerben. Sie ist Teil des Entlastungspakets der Ampel-Koalition wegen der hohen Energiepreise. Zugleich soll es ein Schnupperangebot sein, um mehr Kunden für Busse und Bahnen zu gewinnen. Der Bund stellt dafür 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Die konkrete Ausgestaltung liegt bei den Ländern. Der Berliner Senat erwägt noch, ein Null-Euro-Ticket für Abonnenten in Berlin einzuführen. Bei den Berliner Verkehrsbetrieben, den größten Nahverkehrsunternehmen Deutschlands, ist man noch unsicher, ob das Angebot umsetzbar ist – man verschanzt sich erst einmal hinter dem Argument, dass der Verwaltungsaufwand zu hoch sei.
Bedenken hatten Bayern und Niedersachen angemeldet – sie fürchten, auf den Kosten sitzen zu bleiben. Die Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz der Länder, Bremens Verkehrssenatorin Maike Schaefer (Grüne), forderte, Risiken beim Neun-Euro-Ticket dürften nicht auf die Länder übertragen werden. Die Länder seien bereit, gemeinsam mit den Aufgabenträgern des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) alles dafür zu tun, um das beschlossene Neun-Euro-Ticket termingerecht bundesweit zum 1. Juni umzusetzen. „Die Verkehrsministerkonferenz erwartet im Gegenzug, dass der Bund zu seiner Zusage steht und die Kosten für die Organisation und Umsetzung übernimmt. Die Risiken dürfen dabei nicht auf die Länder übertragen werden", sagte sie der dpa.
Engpässe wegen fehlender Kapazitäten im Sommer befürchtet
Auf diese Risiken bezieht sich auch die Mobilitätsexpertin des Bundesverbands der Verbraucherschützer, Marion Jungbluth. Das bundesweit gültige Ticket könnte zwar als „Booster für Busse und Bahn" wirken, weil es keine komplizierten Tarife gibt, die Kunden abschrecken. Aber gerade im Sommer könnten bei der Umsetzung fehlende Kapazitäten zu Engpässen führen, wenn Verbraucher ihre Ausflugsfahrten auf den ÖPNV verlagern. Gut möglich, dass dann an den Wochenenden überfüllte Regionalzüge an die Ostsee oder zu anderen attraktiven Ausflugszielen unterwegs sind. „Das Schnupperangebot könnte also zum Abschreckungsangebot werden", so Jungbluth. Darauf wies auch Jan Schilling vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen hin. Er rechne mit einem deutlichen Anstieg der Fahrgastzahlen in den Sommermonaten. Derzeit werde mit rund 30 Millionen Nutzern des 9-Euro-Tickets im Monat gerechnet. Der Bund müsse damit rechnen, dass die bereitgestellten 2,5 Milliarden Euro nicht ausreichen werden, um die Einnahmeeinbußen im ÖPNV zu decken. Er müsse deshalb bereit sein, mehr Gelder nachzuschießen.
Die Berliner S-Bahn und die BVG wollen mehr Züge einsetzen, die Bahn hat sich bis zum Redaktionsschluss dazu nicht geäußert, obwohl das Ticket schon ab dem 23. Mai verkauft wird. Ein Sprecher wies drauf hin, dass „bei der DB in den vergangenen zwei Jahren, also allein während der Pandemie, rund 1,5 Milliarden Euro in die Erneuerung der Fahrzeugflotte im Regionalverkehr investiert wurden. Weit über 700 neue und modernisierte Züge haben wir deutschlandweit im Regionalverkehr an die Fahrgäste gebracht". Auf bahn.de heißt es, das Ticket könne auf allen Strecken für beliebig viele Fahrten in allen Verkehrsmitteln des ÖPNV benutzt werden. ICE und EC sind davon ausgenommen. Es sei spontan und auch mobil buchbar, also ohne Verkaufsbeschränkungen, etwa wegen zu großer Nachfrage. Jahres- oder Monatskarteninhaber werden automatisch über den Bankeinzug oder durch Rücküberweisung der Differenz zwischen neun Euro und den Kartenkosten entlastet. Fahrräder sind nicht mit eingeschlossen in das 9-Euro-Ticket – ohnehin rät die Bahn ab, wegen der vollen Züge welche mitzunehmen. Besser sei es, am Zielbahnhof ein Fahrrad zu leihen.
Umweltsprecher sprachen bei einer Bundestagsanhörung im Verkehrsausschuss von einem „Strohfeuer", so unter anderem Jens Hilgenberg vom BUND. Er forderte eine deutliche und dauerhafte Erhöhung der Regionalisierungsmittel um zehn Milliarden Euro zur Finanzierung des ÖPNV. Die angestrebte Verdopplung der Fahrgastzahlen bis 2030 gelinge nur, wenn der Autoverkehr gleichzeitig drastisch reduziert werde. Das Ticket helfe vor allem jenen Menschen, die über einen guten Anschluss zum ÖPNV verfügen. Doch wo jetzt kein Bus fahre, werde allein durch das 9-Euro-Ticket auch in Zukunft kein Bus fahren, so Hilgenberg. In diesem Sinne argumentierte auch Tom Reinhold von „TraffiQ – Lokale Nahverkehrsgesellschaft Frankfurt am Main". Das 9-Euro-Ticket werde sicherlich zu einem Zuwachs bei den Fahrgastzahlen führen, löse aber nicht die strukturellen Probleme im ÖPNV. Dieser sei unterfinanziert, es fehle an ausreichend Strecken und engeren Taktungen, Fahrzeugen und Fachpersonal. Reinhold bezeichnete das 9-Euro-Ticket als „Schnellschuss". Er hoffe, dass verkehrspolitische Maßnahmen in Zukunft längerfristig vorbereitet werden.
Mehr Fahrgäste, aber strukturelle Probleme im ÖPNV nicht gelöst
Einige Erfahrungen beim Gewinnen neuer Kunden haben die Verkehrsbetriebe bereits nach dem Einbruch der Fahrgastzahlen durch die Corona-Krise sammeln können. Kontaktloses Bezahlen per Scheck- oder Kreditkarte etwa gehören dazu. Ohne sich über eine App einwählen zu müssen, hält man seine Karte an ein Lesegerät, das die gefahrenen Kilometer berechnet und dazu den Preis pro Kilometer. Die Summe wird einfach abgebucht. Oder das von der BVG in Berlin angestrebte Kundeninformationssystem: Bei Störungen oder Umleitungen sollen die Kunden demnächst besser informiert werden. Ganz wichtig – da sind sich die Experten einig– sind Sauberkeit, Sicherheit und Komfort. Gerade damit könnte es in den drei 9-Euro-Ticket-Monaten schwierig werden. Ein Neukunde fühlt sich kaum angesprochen, wenn er eine Bahn benutzen muss, die voll, verschmutzt und vielleicht auch noch mit grölenden Fangruppen gefüllt ist. Auch Marion Jungbluth hat Wasser in den Wein gegossen. Sie meint, dass genau dann, wenn die drei Monate um sind, die Energiepreise wegen des Öl- und Gasmangelns durch das Russland-Embargo wieder in die Höhe schießen könnten. Dann würde die Wirkung der Neun-Euro-Aktion umgehend verpuffen – und die künftigen Fahrgäste wenden sich enttäuscht ab.