Bei der Turn-WM ruhen die deutschen Hoffnungen vor allem auf Lukas Dauser. Der Olympia-Zweite präsentierte sich bei der Qualifikation in guter Form, auf große Ansagen verzichtete er aber.
Eishockey mit seinen harten Checks? Boxen mit den knallharten Kopftreffern? Handball mit den zahlreichen Schürfwunden? Triathlon mit den enormen Distanzen? Nein! Turnen ist die „härteste Sportart der Welt" – findet zumindest Lukas Dauser. Der Silbermedaillen-Gewinner der Olympischen Spiele von Tokio erklärt auch, warum das seiner Meinung nach so ist: „Es gibt keinen Tag, an dem man keine Schmerzen hat." Er wolle nicht absprechen, „dass es auch in anderen Sportarten hart zur Sache geht", sagte er: „Aber im Turnen hat man auf seinem gesamten Körper täglich eine enorme Belastung, und es ist dazu auch sehr trainingsintensiv."
Nicht umsonst gelten Turner als die am austrainiertesten Sportler. Doch die enorme Trainingsintensität zerrt an den Kräften, körperlich wie mental. Vor allem, wenn man sich wie Dauser in Tokio seinen Lebenstraum erfüllt hat. Der Gewinn der Silbermedaille im Wettbewerb am Barren nach einer grandiosen Vorstellung fühlte sich wie ein Rausch an, der durch zahlreiche Ehrungen, Sponsoren-Termine, Interviews und Autogrammstunden wochenlang anhielt – und einen kräftigen Kater nach sich zog. Irgendwann habe sich „ein Loch" aufgetan, sagte der 29-Jährige der Münchener „Abendzeitung", „in das ich gefallen bin". Er sei wie vor Olympia auch jeden Tag zum Trainieren in die Halle gegangen, „aber ich war nicht mehr mit dem Feuer dabei". Gut ein halbes Jahr hielten die Motivationsprobleme an, zwischendurch machte sich der Topturner Sorgen, ob er deswegen je wieder ganz oben angreifen könne. Doch im Nachhinein könne er sagen: „Das ist normal." Denn die Motivation ist zurückgekehrt, ohne dass Dauser dafür ganz tief in die Trickkiste greifen musste. Spätestens seit Ostern sei er „wieder Feuer und Flamme" – und die Aussicht auf WM-Medaillen verstärkt dieses Gefühl nochmals. Dauser führt die Riege des Deutschen Turner-Bundes (DTB) als aussichtsreichster Athlet an, wenn in der englischen Arbeiterstadt Liverpool vom 29. Oktober bis 6. November die Weltmeisterschaften abgehalten werden.
„Wir nehmen die Sache ernst"
Bei den Titelkämpfen geht es aber nicht nur um Gold, Silber und Bronze. Die WM sei auch wichtig, erklärte Dauser, „weil die besten drei Teams schon für Paris 2024 qualifiziert sind. Man muss zumindest unter die besten 24 Mannschaften kommen, um sich für das Folgejahr zu qualifizieren." Diese Mindesthürde, um weiter im Rennen um die Olympia-Tickets zu bleiben, dürfte zwar keine allzu große Herausforderung darstellen. „Aber", so betonte Dauser, „wir nehmen die Sache ernst".
Neben Dauser haben sich bei den Männern auch Nils Dunkel (SV Halle), Lucas Kochan (SC Cottbus), Andreas Toba (TK Hannover) und Glenn Trebing (TK Hannover) für die Welttitelkämpfe qualifiziert. Als Ersatzmann ist der Hallenser Nick Klessing vorgesehen. Bei den Frauen ruhen die Hoffnungen vor allem auf Emma Malewski (TuS Chemnitz-Altendorf), Pauline Schäfer-Betz (KTV Chemnitz) und Elisabeth Seitz (MTV Stuttgart), außerdem ist Karina Schönmaier (Blau-Weiss Buchholz) am Start. Abgesichert wird die Frauen-Riege durch Ersatzfrau Lea Marie Quaas (TuS Chemnitz-Altendorf).
„In beiden Teams gehen wir in Liverpool mit einem Mix aus erfahrenen und jungen Turnerinnen sowie Turnern an den Start", sagte DTB-Sportdirektor Thomas Gutekunst: „Einige werden ihre erste Team-WM absolvieren." Die Youngsters sollen wichtige Erfahrungen auf der großen Turn-Bühne sammeln, denn die nächsten Olympischen Spiele in Paris sind nicht mehr fern. Die Wettkämpfe in Liverpool seien daher auch „ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zu den Olympischen Spielen in Paris", betonte Gutekunst, der mit vorsichtigem Optimismus die Reise in die Hafenstadt im Nordwesten Englands antrat: „Wir haben sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern eine gute letzte Qualifikation erlebt."
Das gilt vor allem für Dauser, dabei war er vor dem zweiten und letzten Qualifikations-Wettbewerb in Rüsselsheim Mitte Oktober bereits sicher für die WM nominiert gewesen. Grund hierfür war sein starker Sieg im Sechskampf (82,55 Punkte) beim ersten nationalen Ausscheidungswettkampf zwei Wochen zuvor in Kienbaum. In Rüsselsheim gewann Dauser den Mehrkampf sogar mit einer noch besseren Punktezahl (82,732) – was den deutschen Vorturner selbst etwas überraschte. „Ich habe es als Test genommen und aus dem vollen Training heraus geturnt", verriet er. Das Ergebnis, die Leistung und das Gefühl an den Geräten sowie auf der Matte bereiteten Dauser viel Freude: „Das ist mir echt gut gelungen und hat super Spaß gemacht." Auch an seinem Spezialgerät, dem Barren, überzeugte der Deutsche Mehrkampfmeister mit 15,266 Punkten und einer Schwierigkeitsnote von 6,6. „Es gab noch ein paar Kleinigkeiten, die ich noch verbessern kann", sagte er hinterher.
Mit großen Ankündigungen für die WM hielt sich Dauser diesmal zurück. Seit den Heim-Europameisterschaften in München ist er in dieser Hinsicht ein gebranntes Kind. Bei der EM „dahoam", die der in Ebersberg geborene, in Glonn aufgewachsene und in Unterhaching ausgebildete Bayer unbedingt mit einem Triumph beenden wollte, gab es einen Salto Nullo: Im Team-Mehrkampf hatte Dauser 15,333 Punkte geholt, im Barren-Finale sprangen nach einem Fehler nur 13,633 Zähler heraus. Am Ende wurde es nur der achte Platz – eine herbe Enttäuschung. Dabei hatte er für die EM sogar die Hochzeit mit seiner Verlobten Viktoria auf das kommende Jahr verschoben.
„Der Stachel sitzt schon tief"
„Der Stachel sitzt schon ganz tief", sagte Dauser: „Leider bin ich während der Übung etwas nachlässig geworden." Bei einem Element hatte er mit seinem Bein den Holm touchiert, was ihn zum unfreiwilligen Absteigen zwang. Dazu noch ein Ausfallschritt bei der Landung –
vorbei war es mit dem Medaillen-Traum. Dauser war gleich in doppelter Hinsicht frustriert deswegen: „Ich hätte diesem tollen Publikum gern etwas mehr zurückgegeben." Denn in der Münchener Olympiahalle waren viele nur seinetwegen gekommen, die Erwartungshaltung war groß. Als „Olympiaheld" und „Lokalmatador" war der Ur-Bayer vom Stadionsprecher immer wieder angekündigt worden, viele der Zuschauer hatten noch die famose Kür im Kopf, mit der sich Dauser in Tokio als bester Europäer hinter dem Chinesen Zou Jungyuan die Silbermedaille sicherte.
„Es war ganz schön Druck auf dem Kessel", sagte Dauser rückblickend. Auch die Ansagen des Stadionsprechers waren ihm nicht entgangen. Die European Championships sind noch nicht das Event von Lukas Dauser. Bei der Premiere des Multisport-Events 2018 in Glasgow konnte er wegen eines Kreuzbandrisses nicht teilnehmen, in München folgte die sportliche Enttäuschung. Dabei mag der kontaktfreudige Dauser die besondere Stimmung bei Wettbewerben mit mehreren Sportarten auf einem Fleck. Am liebsten sind ihm dabei die Olympischen Spiele. Noch einmal dieses Flair erleben, vielleicht sogar noch mal bei einer Siegerehrung auf dem Podium von Sommerspielen stehen, noch einmal so stark im Rampenlicht sein – genau wegen dieser Hoffnungen entschied sich Dauser für die Fortsetzung seiner Karriere. Der Silber-Moment von Tokio bereitet ihm noch immer Gänsehaut.
„Es war ganz krass", erinnert sich der Turner: „Ich habe mich erst mal über meine Übung gefreut, aber ich wusste nicht, ob es reicht. Ich habe dauernd meinen Trainer gefragt: Was denkst du? Was hättest du mir gegeben? Aber er konnte es auch nicht sagen." Irgendwann sei der Physiotherapeut zu ihm gekommen und habe gesagt: „Das muss Silber sein!" Danach verging noch eine Minute, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, bis die Wertung auf der Anzeigetafel feststand. Und Dauser war erlöst. „Das war pure Freude. Da ging gar nix mehr. Ich habe auch gar nicht an etwas Bestimmtes gedacht, es war einfach pure Freude", berichtete Dauser: „Die ersten Momente, als ich es richtig realisiert habe, waren 15 Minuten später, als wir zur Siegerehrung einmarschiert sind und ich mir die Medaille umhängen konnte."
Auch die Bilder von der Siegerehrung gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Dort oben habe er im Zeitraffer seinen kompletten Werdegang von der ersten Barren-Übung bis zur Olympia-Medaille Revue passieren lassen, erzählte er: „Das war sehr emotional." Dauser trat damals in die Fußstapfen seines Vereinskollegen Marcel Nguyen, der 2012 in London ebenfalls Barren-Silber gewonnen hatte. Und Dauser verhinderte ganz nebenbei auch eine Total-Pleite des Verbandes, denn es blieb die einzige deutsche Turner-Medaille in Tokio.
Keine allzu rosigen Aussichten
Auch bei der WM in Liverpool sind die Aussichten nicht besonders rosig. Der Hannoveraner Andreas Toba, 2021 EM-Zweiter am Reck, hatte wegen Achillessehnenproblemen in der jüngeren Vergangenheit immer wieder kürzertreten müssen. Auch die Vizeweltmeisterin Pauline Schäfer-Betz und die Europameisterin Elisabeth Seitz konnten verletzungs- oder krankheitsbedingt keine optimale Vorbereitung absolvieren. In den vergangenen Wochen habe man „einiges an Arbeit" investieren müssen, gab Männer-Bundestrainer Valeri Belenki zu. Und sein Pendant bei den Frauen, Gerben Wiersma, nannte die WM-Nominierung aufgrund der Unwägbarkeiten eine „große Herausforderung". Der Niederländer betonte zudem mit Blick auf die immens wichtige Olympia-Qualifikation: „Das nächste Jahr ist wichtiger."
Das gilt auch für Dauser, der dennoch in Liverpool die vorderen Plätze angreifen will. Er hat die Form und das Selbstvertrauen. „Ich muss frei raus turnen, ich habe nichts zu verlieren, ich habe nichts zu verteidigen, das sind keine Olympischen Spiele", sagte er: „Es geht bei null los."