Jürgen Brähmer winkt in der Muhammad-Ali-Trophy ein Mega-Preisgeld. Doch das ist längst nicht der einzige Anreiz, warum er immer noch im Boxring steht.
Jürgen Brähmer wird in diesem Jahr bereits 40 Jahre alt. Er hat mit dem Profiboxen genug Geld verdient, um in seiner Heimatstadt Schwerin ein zumindest finanziell sorgenfreies Leben mit seiner Familie zu verbringen. Er hat sogar schon eine neue Aufgabe gefunden, als Trainer in seinem eigenen Gym führt er Talente an die Weltspitze heran. Und doch steht Brähmer immer noch selbst im Ring, am 24. Februar kämpft er in Nürnberg gegen den Engländer Callum Smith um den Einzug ins Finale der lukrativen Muhammad-Ali-Trophy.
„Das Boxen ist mein Leben, auch wenn ich es zum Leben nicht mehr benötige“, sagt Brähmer. Der deutsche Boxsport braucht Brähmer dafür umso mehr. Der 39-Jährige ist das letzte Zugpferd einer Branche, die hierzulande seit Jahren in den Seilen hängt. Auch in der Muhammad-Ali-Trophy, die mit ihrem gigantischen Preisgeld in Höhe von 50 Millionen US-Dollar weltweit großes Interesse hervorruft, ist Brähmer der einzig verbliebene deutsche Hoffnungsträger. Arthur Abraham (Supermittelgewicht) und Marco Huck (Cruisergewicht) hatten sich bereits in der ersten Runde aus dem Wettbewerb verabschiedet.
Bereits neue Ziele gesetzt
Alle Augen sind also mal wieder auf Brähmer gerichtet. Das Duell gegen Smith, der sich bei seinem Auftaktsieg nach Punkten gegen den Schweden Erik Skoglund nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, sehen Experten als ausgeglichen an. Skoglund war einst Brähmers Sparringspartner, auch deshalb rechnet sich der Schweriner gute Chancen aus: „Überkreuzvergleiche hinken zwar, doch Skoglund hat keine schlechte Figur gegen mich gemacht, sodass ich in etwa weiß, was nun auf mich zukommt.“ Für Smith sprechen das Alter und die Explosivität, für Brähmer die Erfahrung und das taktische Repertoire. Wie sich Brähmer bei seinem Erstrundenfight gegen den Amerikaner Rob Brant mit jeder Runde von seiner fast einjährigen Wettkampfpause wegen eines Bandscheibenvorfalls und eines Muskelfaserrisses freigekämpft hat, war beeindruckend. Denn der Druck war enorm, bei einer Niederlage hätte der Ex-Weltmeister seine Boxhandschuhe an den viel zitierten Nagel hängen können. „Ich wollte zeigen, dass ich es mit 39 Jahren noch draufhabe“, sagte Brähmer damals: „Man konnte sehen, dass ich noch ziemlich fit bin.“ Nicht einmal die Tatsache, dass sein Trainer Michael Timm, der zur Hochzeit seiner Tochter nach Indien geflogen war, in der Ringecke fehlte, konnte ihn stoppen. „Im Kampf muss mir niemand eine Motivationsspritze geben, denn ich weiß, um was es geht.“
Bei der Muhammad-Ali-Trophy geht es vor allem um zwei Dinge: Prestige und Geld. Bei seinem Sieg gegen Brant heimste Brähmer bereits 1,5 Millionen Euro ein, im Falle eines Finalerfolgs in der „Champions League des Boxens“ winkt sogar ein zweistelliger Millionenbetrag. Doch zuerst muss Brähmer Smith aus dem Weg räumen, und der Finalgegner wäre noch mal ein anderes Kaliber. Eine Woche vor dem Brähmer-Kampf stieg in Manchester das erste Halbfinale zwischen den Engländern Chris Eubank jr. und George Groves – zwei absolute Topleute im Supermittelgewicht.
Brähmer war in dieser Gewichtsklasse einst auch ein Weltklasseboxer, einer der gefürchtetsten Puncher (24 Knockouts in 31 Kämpfen) überhaupt. Vor zehn Jahren stieg er jedoch ins Halbschwergewicht auf, um jetzt für die neue Superserie wieder in seine alte Klasse zurückzukehren. Um die Differenz von 3,2 Kilogramm an Gewicht zu verlieren, musste Brähmer seine Ernährung umstellen. Es sei komisch, verrät Brähmer, „dass ich jetzt mit meiner Freundin Salat essen muss – und mich auch noch daran gewöhne.“ Sich anpassen – das hat Brähmer im Laufe seines Lebens gelernt. Nachdem er als Jugendlicher von der Leichtathletik zum Boxen gewechselt war, wurde Brähmer schnell als „Jahrhunderttalent“ gefeiert. Von seinen 100 Amateurkämpfen gewann der gebürtige Stralsunder 95, trainiert wurde er schon damals von Michael Timm. „Jürgen wollte nach ganz oben und unbedingt die Nummer eins sein“, erinnert sich Timm an die Anfangsjahre: „Und dieser Erfolgswille ist immer noch in seinem Kopf verankert.“
Brähmers Reifeprozess
So einen Instinktboxer, der intuitiv die richtigen Dinge tut, hatte das deutsche Boxen lange nicht gesehen. Doch Brähmer hatte sich in jungen Jahren bei Provokationen nicht immer im Griff. Er landete im Gefängnis, seine so verheißungsvolle Karriere stand auf der Kippe. Solche Schlagzeilen gehören jedoch der Vergangenheit an. Brähmer ist ein ausgesprochener Familienmensch, in Gesprächen wirkt er ausgeglichen und freundlich. „Der Junge von einst bin ich nicht mehr“, sagte er einmal der Tageszeitung „Die Welt“: „Wenn du dich richtig in den Arsch beißt, kommst du aus der Scheiße auch wieder raus.“ Aus dem Teufelskreis rausgeholfen hat ihm zweifellos sein Ausnahmetalent, das er sich auch im Alter bewahren konnte. Der Punch ist vielleicht nicht mehr so stark, aber Brähmers Bewegungen im Ring, seine Beinarbeit und sein Verständnis für die richtige Schlagdistanz sind nach wie vor eine Augenweide. Der etwas gehetzte Terminkalender in der Ali-Trophy kommt ihm entgegen, längere Pausen vertrage sein Körper nicht mehr so gut wie regelmäßige Wettkampfbelastungen, so Brähmer.
Dass er im Halbfinale gegen Smith erneut Heimrecht genießt, ist ohne Frage ein Vorteil. „Ich hätte aber auch auswärts geboxt“, betont Brähmer. Das Lager seines Gegners ist alles andere als glücklich mit dem Austragungsort Nürnberg, zwischendurch kokettierten die Engländer sogar mit einer Absage des Kampfes. „Wir gehen nach Deutschland, weil das die endgültige Entscheidung ist. Aber glücklich sind wir damit nicht“, sagte Smith-Trainer Joe Gallagher: „Jetzt boxen die besten vier Boxer, und das sollte auf neutralem Boden stattfinden.“ Smith scheint sich mittlerweile mit dem Fakt anzufreunden, er freue sich auf den „schönen Trip für meine Fans“, sagt der 27-Jährige. An eine mögliche Niederlage denkt Smith, der in 23 Profikämpfen noch ungeschlagen ist, überhaupt nicht: „Ich bin jünger und hungriger und werde Brähmer schlagen.“
Je länger der Kampf jedoch dauert, desto größer werden Brähmers Chancen auf den Sieg sein. „Seine Erfahrung und seine Routine geben ihm einen riesigen Vorteil gegenüber den anderen Turnierteilnehmern“, sagt sein Trainer Timm. Er glaubt ganz fest an einen Gesamtsieger mit dem Namen Jürgen Brähmer: „So fit wie er momentan ist und auf welchem Level er immer noch imstande ist zu boxen, sehe ich gute Chancen für ihn, das Turnier zu gewinnen.“ In dem Fall hätte Brähmer wirklich genug Geld verdient und Prestige gesammelt, um auf dem Höhepunkt abzutreten. Die neu ins Leben gerufene Muhammad-Ali-Trophy, benannt nach dem „Größten“ in der Boxgeschichte, hat sich bislang durchaus bewährt. Bei dem Format treten pro Saison in zwei Gewichtsklassen die besten acht Boxer im K.o.-Format gegeneinander an. Die Kämpfe werden in Top-Arenen ausgetragen und weltweit vermarktet. Mit den vier großen internationalen Profibox-Verbänden WBA, WBO, WBC und IBF gibt es eine enge Kooperation.
„Alle Fights stehen für atemberaubendes Entertainment und eine große Show“, sagt der deutsche Box-Manager Kalle Sauerland. Der bisherige Chef der Sauerland-Boxpromotion übernahm bei dem neuen Konzept eine zentrale Rolle und agiert beim Veranstalter als eine Art Sportvorstand. Dass sich dieses Format allerdings auch im Schwergewicht durchsetzt, erscheint mehr als fraglich. Allein beim Megakampf zwischen Anthony Joshua und Wladimir Klitschko hatten beide Boxer knapp 15 Millionen Euro eingestrichen, also mehr als sie in der gesamten neuen Serie hätten verdienen können.
Trainer muss keine Reden schwingen
Für Boxer der unteren Gewichtsklassen ist das Turnier aber höchst lukrativ und sportlich reizvoll. Dass im Halbfinale des Supermittelgewichts neben Brähmer drei Engländer stehen, ist alles andere als Zufall. Die Insel hat im Profiboxen längst die Vorherrschaft übernommen. Das deutsche Profiboxen steckt dagegen tief in der Krise. Neue Helden müssen her – ansonsten droht der Sportart hierzulande der K. o. „Wir haben so viel Potenzial in Deutschland, aber weil in der Förderung falsche Akzente gesetzt werden, bleibt leider vieles auf der Strecke“, sagt Brähmer. Er selbst will das ändern, in Schwerin formte er als Trainer unter anderem den Berliner Tyron Zeuge zum WBA-Weltmeister. „Die Arbeit mit jungen Talenten bereitet mir unglaublich viel Freude“, sagt Brähmer: „Zu verfolgen, wie junge Sportler sich im Training reinhängen, zuhören, Dinge umsetzen und sich erfolgreich entwickeln, ist wirklich ein Geschenk.“ Seine Schützlinge blicken zu Brähmer auf, auch wegen dessen wechselhafter Lebensgeschichte. „Jürgen ist Coach, Trainingspartner und Kumpel in einer Person“, sagt Zeuge: „Er hilft mir in allen Lebenslagen und hat immer ein offenes Ohr für mich.“
Am 24. Februar ist aber nicht der Trainer Brähmer, sondern der Boxer Brähmer gefragt. Sein langjähriger Wegbegleiter Timm weiß, dass er beim Haudegen in der Ringecke keine großen Reden schwingen muss. „Jürgen reichen normal drei prägnante Sätze in den Pausen“, sagt Timm: „Der einfachste und effektivste Satz lautet: Hau ihn um!“