Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des DIHK, sieht eine Konjunkturabkühlung und warnt vor einem Chaos-Brexit.
Herr Wansleben, Wirtschaftsinstitute sprechen von einem möglichen Konjunktureinbruch. Halten Sie den für wahrscheinlich?
Gerade führen wir unsere Konjunkturumfrage für den Frühsommer dieses Jahres durch. Wir mussten im Frühjahr schon unsere Prognosen im Vergleich zum Herbst vorigen Jahres korrigieren und befürchten, dass es in der Tat eher schlechter als besser wird. Die Unsicherheiten im internationalen Umfeld kommen jetzt konkret in den Unternehmen an. Also nicht nur die Stimmung wird schlechter, sondern auch die wirtschaftliche Lage.
Was heißt das konkret?
Das bedeutet für die Unternehmen weniger Aufträge, weniger Absatz, weniger Gewinn. Und auch weniger Arbeit. Dem-
gegenüber stehen erhebliche Engpässe auf dem Arbeitsmarkt. Die Unternehmen suchen nach wie vor händeringend nach Fachkräften. Der Wind bläst uns schon ordentlich ins Gesicht.
Müssen wir Angst vor China haben? Wie beurteilen Sie denn die Pläne für eine neue Seidenstraße?
Die deutsche Wirtschaft ist, wie keine andere Wirtschaft auf der Welt, auf fairen und freien Handel angewiesen. Bei uns sind auch viele kleinere Firmen weltweit aktiv. Komplizierte Regelungen machen das Geschäft gerade für den Mittelstand schwieriger. Richtig finden wir alle Maßnahmen, die zu offenen Grenzen führen. Die Seidenstraße hat viel wirtschaftliches Potenzial. Vielen Unternehmen bescheren Projekte der Seidenstraße ordentliche Aufträge. Sie birgt aber auch die Gefahr, den Handel zu einseitig zu gestalten. Wir wissen, dass China diese Ambivalenz sieht und setzen deshalb auf einen Dialog. Der freie und faire Handel ist übrigens auch für chinesische Unternehmen, die zunehmend nicht nur verlängerte Werkbank sind, sondern auch mit eigenen Produkten auf die Weltmärkte kommen, immer wichtiger.
Auch der mögliche Brexit birgt ja Herausforderungen. Welche Konsequenzen befürchten Sie?
Großbritannien ist der fünftwichtigste Partner der deutschen Wirtschaft. Was dort passiert und wie deutsche Unternehmen in Zukunft ihre britischen Kunden erreichen, hat große Bedeutung für uns. Außerdem ist Großbritannien ein wichtiger europäischer Unternehmensstandort. So gibt es viele Produkte, die auf der Insel für Deutschland oder auch für viele andere Länder von deutschen Unternehmen produziert werden. Also wenn der Grenzzugang komplizierter wird, hat das unmittelbar weitreichende Wirkung nicht nur für die deutsche Wirtschaft insgesamt, sondern auch auf die einzelnen Unternehmen.
Welche Stimmung nehmen Sie bei den Unternehmen wahr?
Mit unserer Auslandshandelskammer in London führen wir einen ganz engen Dialog darüber, wie die wirtschaftlichen Auswirkungen sein könnten. Von Seiten der Unternehmen hören wir häufig: Egal welche Entscheidung: Hauptsache, es gibt endlich eine!
Das klingt nach einer Haltung nach dem Motto, egal ob Brexit oder nicht: Hauptsache wir wissen endlich, wo wir dran sind. Ist das so?
Das sagt ein Teil der Unternehmen. Aber es gibt auch die, die auf einen geregelten Brexit hoffen. Und natürlich auch die, die hoffen, dass es doch nicht zum Brexit kommen wird.
Und wie lautet Ihre Prognose?
Im Moment weiß das wohl niemand. Auch in Großbritannien nicht. Die Unternehmen kommunizieren uns ein Gefühl von Ohnmacht. Egal, welche Maßnahmen sie ergreifen, um sich auf das, was da kommen mag, vorzubereiten: Es können die falschen sein. Dabei geht es für viele Unternehmen um richtig viel: um Investitionen, Arbeitsplätze und auch um viel Geld.
Welches wären die Lösungen, um ein Chaos zu verhindern?
Sollte es zu einem ungeregelten Brexit kommen, bräuchten wir Übergangsregelungen. Damit es zum Beispiel nicht ganz so schlimm wird mit den Lkw an den Grenzen! Ich plädiere im Fall der Fälle für eine bestimmte Übergangsfrist, um Schocks für die Unternehmen abzufedern. In dieser Zeit könnte nach langfristigen Lösungen gesucht werden. Es kann keiner ein Interesse daran haben, schon gar nicht deutsche Unternehmen, dass an der Grenze von jetzt auf gleich Chaos entsteht. Und Großbritannien bleibt auch in Zukunft ein wichtiger Markt für deutsche Unternehmen.
Aber inzwischen ist ja schon viel Zeit ins Land gegangen.
Die Zeit, die inzwischen verstrichen ist, ist auch für die Unternehmen ein wichtiger Faktor. Sie hat gezeigt, dass ein geregelter Brexit der bessere Weg ist. Die Herangehensweise sollte aber nicht zu apodiktisch sein. Davor haben die Unternehmen nämlich Angst, dass es zu sehr ums Prinzip geht. Nur in einem dürfen wir keine Kompromisse machen: in Bezug auf die Integrität des EU-Binnenmarktes. Mehr als 80 Prozent der Unternehmen sprechen sich dafür aus. Das ist auch eine ganz wichtige Botschaft an die britische Politik. Die Haltung der EU in Sachen Binnenmarkt ist keine rein politische Überlegung, sie macht auch aus Sicht der Unternehmen Sinn.
Sie meinen, wenn es denn so weit wäre, gäbe es ein massives Interesse die Grenzen zu schützen? Also auch für Güter?
Genau, das meine ich mit Integrität des EU-Binnenmarktes. Der Binnenmarkt besteht ja nicht nur aus einer Zollunion, es sind auch Anforderungen an Produkte und Leistungen definiert. Wenn Sie zum Beispiel ein Auto in Griechenland erstmals auf die Straße setzen, dann ist das in ganz Europa zugelassen. Es gibt bestimmte technische Anforderungen, die in ganz Europa einheitlich gelten. Wenn Sie die Grenze diesbezüglich nicht schützen, dann haben sie auf einmal unterschiedliche Produkte, die nicht notwendigerweise den europäischen Anforderungen Genüge leisten. Das ist im Kern das Problem. Bei allem Pragmatismus hat man in dieser Beziehung strukturell keinen Spielraum.
Wie wird sich ein Brexit auf die deutsche Autoindustrie auswirken?
Die Automobilindustrie ist ein typisches Beispiel für sogenannte paneuropäische Wertschöpfungsketten. Sowohl in der Produktion von Autos als auch in der Veredelung von Vorprodukten oder Einzelteilen wie Motoren und Stoßdämpfern spielt die englische Wirtschaft eine große Rolle. Gerade für die so international ausgerichtete Automobilindustrie, die in ganz Europa fertigt, ist England ein wichtiger Standort, und mehr als nur ein Absatzmarkt. Das Gleiche gilt auch für den Maschinenbau. Im Vorfeld der Europawahlen zeigt sich übrigens, wie wichtig Europa ist. Europa ist aus Sicht der Unternehmen mitverantwortlich für unseren Wohlstand.
Welche Branchen wären besonders betroffen?
Es betrifft flächendeckend alle Produkte, die durch technische Regelwerke tangiert sind, wie der Maschinenbau oder die Chemie und Pharmazie. Die Zulassung von Medikamenten, welche selbstverständlich auf europäischer Ebene geschieht, ist ein großes Thema. Wer gewährleistet, dass Großbritannien in Zukunft all diese Regelungen übernimmt? Denn es heißt ja, dass die Briten gerade das nicht wollen. Bei allen Schwierigkeiten, die die zeitliche Verzögerung mit sich gebracht hat, sie hat auch dazu geführt, dass man auf allen Seiten verstanden hat, wie komplex das Thema ist.
Können Sie dem zeitlichen Aufschub also auch etwas Positives abgewinnen?
Das Beste wäre natürlich, das Problem wäre nie entstanden. Wer hätte gedacht, dass die Diskussionen im britischen Parlament eine solch unmittelbare wirtschaftliche Relevanz für die Unternehmen in Deutschland haben würden? Das Zweitbeste wäre gewesen, man hätte die Zeitpläne eingehalten. Andererseits hätte man schon ahnen können, dass es so einfach nicht geht. Und nun ist es besser, sich die notwendige Zeit zu lassen, als eine Sturzgeburt hinzulegen. Chaos ist das letzte, was die Unternehmen brauchen. Gerade jetzt, wo die wirtschaftliche Situation ohnehin schwieriger wird.