Dem einen wird’s warm ums Herz, der andere schüttelt sich, wenn nur der Begriff fällt: Heimat. Gibt es sie denn auch in der anonymen Großstadt, kann es eine Heimat Berlin geben? Offenbar ja, die Berliner hängen an ihrer Stadt – trotz aller Veränderungen und Umwälzungen.
Herzlich willkommen zum Multiple-Choice-Quiz! Die heutige Frage lautet: „Was ist Heimat?" Auswahlmöglichkeiten: a) Ein Bauernhaus im Voralpenland mit geraniengeschmücktem Holzbalkon. b) „Kein Ort, sondern ein Gefühl" – eines von Wärme, Verstanden-Werden, Zuhause. c) Da, wo ich aufgewachsen bin. Oder d) … (tragen Sie hier Ihre eigene Vorstellung ein). – Letzteres ist gemein, zugegeben. Noch dazu, wo ja viele ohnehin erst mal die Nase rümpfen über die Renaissance eines Begriffes, bei dem viele eigentlich nur an Lederhose, Heimattümelei oder Provinzialität denken.
Ja, zugegeben: Wir Deutschen nennen Heimat lieber die Stadt oder Gegend, aus der wir kommen, statt zu sagen „Meine Heimat ist Deutschland." Dabei ist für viele, die einst von weit her kamen, Deutschland inzwischen Heimat geworden. Und wie wichtig der Begriff politisch geworden ist, zeigt sich nicht zuletzt dann, wenn es um Horst Seehofers Heimatministerium geht. Gemeint sind da nicht Dirndlkleider und Hirschgeweihe, sondern, wie Seehofer selbst erklärt hat, ist es sein Ziel, dass es sich überall im Lande gut leben lässt. Eine löbliche Querschnittsaufgabe – und eine mit ordentlich hoch gelegter Latte. Und bestimmt spielte in den Namen dieses ungewohnten Ministeriums mit hinein, eben der Vereinnahmung der Heimat durch ganz rechts etwas entgegenzusetzen. Tönt es doch von dort immer wieder, die Heimat werde verraten oder zerstört durch all das Neue, was kommt - nicht zuletzt die vielen Zuwanderer.
An dieser Vereinnahmung mag es zu einem guten Teil liegen, dass viele auf die Frage „Was ist Heimat" erst mal irritiert reagieren. Noch dazu ist es ja cool zu behaupten, überall zu Hause zu sein – mal abgesehen davon, dass natürlich auch Arbeitgeber auf ungebundene und universell einsetzbare Kräfte stehen, also warum irgendwo Wurzeln schlagen statt den guten Jobs hinterherzuziehen? Bei vielen Jüngeren ändert sich das aber ruckartig, wenn sie an eine noch zu gründende eigene Familie denken; bei den Älteren spätestens dann, wenn es um einen Ruhepunkt zum Richtig-alt-Werden geht. In beiden Fällen kommt eines ins Spiel: der Wunsch nach einer vertrauten Umgebung. Und die kann es natürlich auch in der Großstadt geben. Auf eine pittoreske, liebliche Landschaft kommt es also gar nicht an.
Das eigene Dorf in der riesigen Stadt: der Kiez
Hier taucht dann auch der Wunsch nach einer gewissen Stetigkeit auf. Und Vertrautheit mit den Menschen um einen herum – egal, ob man sich bei den Nachbarn nach der Einschulung des Kleinsten erkundigt oder das Lieblingsgetränk ungefragt auf dem Kneipentresen steht. Wodurch die Frage auftaucht: Wie, bitte, soll das in einer quirligen, sich ständig verändernden Millionenstadt wie Berlin überhaupt funktionieren? Kann Großstadt überhaupt Heimat sein – wo eines ihrer Merkmale doch gerade die Anonymität ist, im Gegensatz zur sozialen Kontrolle auf dem Dorf?
Klare Antwort: Ja, sie kann. Nicht für alle, und natürlich gibt’s auch immer Schattenseiten – aber für viele. Denn die Berliner wehren sich, wie auch andere Großstädter, ganz selbstverständlich gegen die schiere Menge an Gebäuden und Leuten: Sie denken und leben in Kiezen. Schaffen sich also, wenn man so will, ihr eigenes Dorf – das reicht dann rund um die eigene Wohnung bis zum Supermarkt, der Kneipe, zur Kita oder zum nächsten Stückchen Park fürs Grün-Gefühl. Aber nicht viel weiter: „Nee, kenn ich nicht, die Kneipe, muss jenseits der S-Bahn-Linie sein!" Woraus sich zugleich ein Problem ergibt: Wer innerhalb der Großstadt umziehen muss, weil er sich wegen explodierender Mieten die eigene Wohnung nicht mehr leisten kann, wird meist aus seinem Kiez vertrieben. Verliert also, obwohl die gleiche Stadt in der Adresse steht, seine Heimat.
Für Wohnungsmarktexperte Prof. Dr. Harald Simons gehören solche Umwälzungen bei so genannten „Schwarmstädten" einfach dazu. Einige Kieze verändert das dann besonders: „Aktuell werden ehemals im Mauerschatten gelegene Randgebiete immer mehr zur besten Innenstadtlage, und die ist überall teuer", erklärt Simons. Für beliebte Schwarmstädte wie Berlin gelte: Die Leute passen sich an – das sei zwar nicht unbedingt schön für die Betroffenen, manchmal sogar knallhart. Aber es gehöre eben zu den Wachstumsschmerzen von Orten mit internationaler Anziehungskraft.
Aber bietet eine solche dynamische Großstadt, die die Menschen immer wieder entwurzelt, dann noch Heimat? Schwierige Frage. Drei Neu-Berliner, aus England, aus Kasachstan und aus Indien, erklären uns, wie der Magnetismus einer Stadt wie Berlin funktioniert. „Wie vielfältig und frei Berlin ist, merkt man erst, wenn man woanders gelebt hat", meint eine von den dreien. Vielleicht stimmt das ja – dafür können andere, wie das Eckkneipen-Wirtspaar Inge und Willy Domscheit, die Lage vor Ort seit Jahrzehnten mit der Hand am Zapfhahn beobachten. Inzwischen wird der einstige Arbeiterbezirk Wedding, mittendrin ihr „Soldiner Eck", nicht mehr von oben herab betrachtet. Im Gegenteil, er mutiert zu einer angesagten Adresse. Inge hat über 40 Jahre Erfahrung, Höhen und Tiefen des Kiezes live miterlebt. Ein authentischer Blick vom Tresen aus auf den Wandel im Kiez draußen vor der Kneipentür.
Die einen finden ihre „Heimat in der Heimat" in der Kneipe, andere womöglich in der Laube – und wieder andere im Club. Als Fan, oder auch als Spieler oder Trainer. André Hofschneider, seit Jahrzehnten eng mit Union Berlin verbunden, hat über sein Engagement als Profi bei anderen Clubs den Vergleich: „Guck mal, noch so ein Ossi!", den Spruch beim Auflaufen in West-Vereinen kennt er nur zu gut. Wobei er auch zu Hause in Berlin immer noch gravierende Unterschiede sieht zwischen Ost und West, die seien nicht wegzureden.
Das ist auch kein Wunder, sieht man sich an, wie das Berlin-Feeling in der geteilten Stadt war: Während unser Beispiel-West-Berliner heute mit einem Augenzwinkern den goldenen Insel-Zeiten hinterherweint, musste sich die Ost-Berlinerin mit einer komplett neuen Gesellschaft arrangieren. Und hat es geschafft.
„Ich liebe Berlin": Diesen Satz hätten wir fast über alle Beiträge unseres kleinen Rundumschlags zur Heimat Berlin schreiben können. Fast – keiner redet sich die Ecken und Kanten glatt, auch das ist vielleicht typisch Berlin. Und ganz wichtig die typische Berliner Freiheit: „Hier kannst du so sein und so aussehen, wie du willst", so bekamen wir zu hören. Genug Stoff jedenfalls für viele weitere Diskussionen im Freundes- und Bekanntenkreis zu einem erstaunlich aktuellen Begriff.