Die Arnold Circus Productions GmbH präsentiert in der neuen Freiluftarena Saar am Zeltpalast Merzig das Musical „Jekyll & Hyde“. Ein Premierenbericht.
In jedem von uns gibt es zwei Wesen. Das Gute und das Böse.“ Vor Beginn der Premiere erscheint dieser Satz auf der riesigen Projektionswand. Der eigentliche Auftakt von „Jekyll & Hyde“ ward jedoch vom Himmel gesandt. Bevor der Schriftzug an die Dualität des Menschen erinnerte, zogen mehrere Hundert Vögel über die Freiluftarena in Merzig als hätten sie eine Regieanweisung erhalten. Ihr Kurs führte über die ansteigenden Sitzreihen, die ebenerdigen Plätze bis zur Bühne. Hinter der aufragenden Projektionswand entschwand der Vogelzug den Blicken der Premierenbesucher.
Ursprünglich war ein halbszenisches Konzert, „Jekyll & Hyde in concert“, bei zwölf Probentagen geplant. „Dann hat uns der Ehrgeiz gepackt“, verrät Regisseur Andreas Gergen. Wie hat er es geschafft in so kurzer Zeit ein komplettes Musical mit zwölf Darstellern einzustudieren? Fast flüsternd antwortet Gergen ein Wort, seine Erfolgsformel: „Vertrauen“. Vertrauen hat nicht nur das Ensemble zum Regisseur. Dass die neue Freiluftarena angenommen wird, dieses Vertrauen setzt Produzent Joachim Arnold in das Publikum. Trotz coronabedingter Auflagen ein Musical herauszubringen, zeugt von Unternehmergeist.
Ein Mensch mit zwei Gesichtern
Das Musical „Jekyll & Hyde“ gibt vor auf der weltberühmten Schauergeschichte „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson zu basieren. Tatsächlich bedient sich das Musical jedoch lediglich eines Motives. Vergleiche von Buch mit Musical verbieten sich, weil jedes für sich steht. Die Handlung des Musicals ist eine Neuerfindung – die Uraufführung fand 1990 in Houston/USA statt. Verblüffend ist dennoch, dass in der Musical-Version zwei Frauen bedeutsame Rollen spielen, die für den Handlungsverlauf entscheidend sind. Bei Stevenson bewegen wir uns in einer Welt der Männer, allenfalls tritt weibliches Hauspersonal auf. Wer die Novelle kennt, wurde überrascht, wer sich vornimmt, sie zu lesen, wird überrascht.
Einen Menschen mit zwei Gesichtern beschreibt man als „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ – ein geflügeltes Wort. Gemeint wird gleichzeitig, dass der Mensch sich hinter einer Fassade versteckt. Die Inszenierung verzichtet auf tagespolitische Anspielungen. Assoziationen und Gedanken sind frei. Der Chor singt lautstark: „Alles nur Fassade! Tag und Nacht wird sich was vorgemacht.“
Der Arzt Dr. Henry Jekyll (Fabio Diso) führt Gutes im Schilde als er seine Kollegen vom Krankenhausgremium überzeugen will, ihm einen Patienten zu überlassen, um die Trennung von Gut und Böse im Menschen zu erreichen. „Es gibt so etwas wie Ethik“, schallt ihm entgegen, „Geben Sie auf, Sie wollen zu viel.“ Aufgeworfen wird die aktuelle Diskussion: Darf alles erlaubt werden, was der Wissenschaft möglich erscheint? Jekylls Verlobte Lisa (Milica Jovanovic) steht zu seinen Ambitionen.
Im gemeinsamen Duett „Nimm mich wie Ich bin“ wird die Fassaden-Idee eindrucksvoll visualisiert. Eine efeuberankte Hausfront wird von einem Meer-Idyll regelrecht weggeschoben. Die Projektionswand fungiert nicht nur als Verortung einer Szene, auch Wunschvorstellungen und Visionen, ebenso emotional-innere Vorgänge, erblühen zu bildhaften Kompositionen. Und die sind gewaltig. Bricht die Dunkelheit herein, leuchten die Projektionen geradezu magisch.
In Jekylls Labor glitzern die Gläser mit eingelegten Präparaten in turmhohen Regalen. Als Jekyll im Selbstversuch eine Droge spritzt und seine dämonische Verwandlung einsetzt, überlagern sich die Bilder eines neuronalen Netzes des menschlichen Gehirns mit giftgrünen Farbklecksen. Zuständig für all diesen Zauber ist der Videokünstler und Bühnenbildner Momme Hinrichs, der mehrfach für das Videodesign zu Tourneen von Marius Müller-Westernhagen verantwortlich gewesen ist.
Musik von rockig bis poppig
Mit „Dies ist die Stunde“ singt sich Fabio Diso in die Herzen der Zuschauer. Bravorufe. Als Dr. Henry Jekyll schaut er aus großer Entfernung auf das Treiben im Club Red Rat. Als Edward Hyde lebt er seine zügellose Seite dort aus. Die Prostituierte Lucy (Miriam Neumaier) verliebt sich prompt in ihn. Das Solo „Wenn jemand wie du mich liebt“ singt Miriam Neumaier anrührend und überzeugend, auch stimmlich. Bravorufe.
Dass die Musicaldarstellerin Miriam Neumaier topless agiert entstand durch ein Malheur während der Generalprobe. Ein gerissener Träger mobilisierte die Darstellerin so, dass sich Regisseur Andreas Gergen beeindruckt zeigte. Miriam Neumaier bot von sich aus an, Szenen oben ohne zu spielen. Erklärungswürdig deshalb, weil man sonst geneigt wäre zu spekulieren, Regisseur Gergen habe auf einen Effekt abgezielt.
Das Musical „Jekyll & Hyde“ ist nicht familientauglich. Die Choreografien (Till Nau) für den Club Red Rat lassen an orgiastischer Deutlichkeit wenig aus. Alle Ensembleszenen sind schwungvoll und präzise gearbeitet, mit acht Akteuren und offenen Verwandlungen sprich Kostümwechseln keine Kleinigkeit. Die Kostüme von Ulli Kremer erscheinen konventionell, auch der knappen klischeehaften Gewandung im Red Rat fehlt es an Originalität.
Der Bischof ist tot. Über den Mörder rätselt das Ensemble-Volk: „Der hasst die Oberschicht“. Weitere Morde folgen. „Die Welt ist ganz verrückt“, singt das Ensemble-Volk während es Sitzhocker über die Köpfe hebt und die metallenen Füße gefährlich drohend in die Luft ragen.
Lisa hat bemerkt, dass mit ihrem Zukünftigen etwas nicht stimmt. Jekyll hat bemerkt, dass Lucy durch Hyde Gefahr droht und schickt sie weg. „Wahre Liebe bleibt ein Traum des Lebens“, singt Lucy tieftraurig. Im Duett „Nur sein Blick“, das Lisa und Lucy zusammenführt, spielen Milica Jovanovic und Miriam Neumaier grandios ihr Talent aus. Große Oper im Musical! Die Musik (Musikalische Leitung: Marc Seitz) ist abwechslungsreich, von rockig bis poppig, von kantig bis samtig.
Wird Lucy der Gefahr entkommen? Wird Lisa Henry Jekyll durch ihre Liebe zurückgewinnen? Oder sind alle verloren? Finden Sie es heraus …