Mitte Oktober steigt der erste reguläre Bundesparteitag der Grünen in voller Präsenz seit vier Jahren. Aus der „Wünsch-dir-was"-Partei ist inzwischen eine Regierungsbeteiligung geworden. Anfangs viel bejubelt, sind sie nun auch in der rauen Wirklichkeit großer Krisen angelangt.
Die 48. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen ist das Erstlingswerk von Emily Büning in Eigenregie. Die 38-Jährige ist selbst dem überwiegenden Teil der Delegierten des Parteitages weitgehend unbekannt, obwohl sie seit Anfang Februar Bundesgeschäftsführerin ihrer Partei ist, eine Funktion, die in anderen Parteien Generalssekretärin heißen würde.
Es ist vielleicht genau das, was den politischen Erfolg der Volljuristin aus Hamburg ausmacht: Sie steht nicht im Rampenlicht, wirkt im Hintergrund, behält so den Überblick und die nötige Distanz. Seit bereits über zehn Jahren ist die zweifache Mutter in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen in Berlin Mitte führend tätig. Vor ihrem letzten Karrieresprung war sie „Organisatorische Geschäftsführerin" der Partei und damit direkt ihrem Vorgänger Michael Kellner unterstellt. Wobei es solche Einordnungen bei den Grünen selbstverständlich nicht gibt. Emily Büning hat in der zweiten Reihe Parteitagsregie unter Kellner gelernt, der mittlerweile parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium ist.
Eine besondere Herausforderung
Diese Bundesdelegiertenkonferenz ist für Büning eine besondere Herausforderung. In den letzten 16 Jahren wurden solche Parteikonvents immer aus der Sicherheit einer Oppositionspartei im Bundestag organisiert. Da konnten die Delegierten viel fordern, der Bundesvorstand musste nur noch vor der Abstimmung die politisch zu radikalen Spitzen kappen und die Anträge „glätten". Seit Dezember letzten Jahres funktioniert eine solche Parteitagsregie nicht mehr nach dem eingeübten Ritual. Die Grünen sind Regierungspartei in der Ampel – und das in einer Zeit voller Krisenherde.
Damit steht die politische Geschäftsführerin der Grünen vor der schwierigen Aufgabe, auf dem Parteitag zwei grundsätzlich auseinanderlaufende Strömungen der Partei unter einen Hut zu bekommen. In den 90er-Jahren waren es noch Realos und Fundis. Heute sind es innerhalb der Partei auf der einen Seite die, die regieren und Verantwortung tragen, auf der anderen die Parteibasis, die nicht in Amt und Würden ist. Politisch ist man zwar weitgehend einer Meinung, fundamentale Strömungen haben sich längst aus der Ökopartei verabschiedet. Die neue, parteiinterne Gemengelage ist aber nicht weniger kompliziert. Die einen setzen Realpolitik in der Bundesregierung um, die Anderen, ohne Posten in der Regierung, bekommen den Unmut der Mitglieder auf Kreis- und Landesebene der Grünen-Mitglieder über ebendiese Politik zu spüren und wollen gegensteuern – ohne dabei allerdings die grüne Regierungsbeteiligung infrage zu stellen.
Bestes Beispiel ist der Streckbetrieb der Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim in Süddeutschland. Ein Tabubruch für die Grünen, vor allem, da ausgerechnet eine unionsgeführte Bundesregierung den endgültigen Atomausstieg für Januar kommenden Jahres beschlossen hatte. Und jetzt sieht sich mit Robert Habeck ausgerechnet ein grüner Minister genötigt, den endgültigen Ausstieg erstmal zu „strecken". Eine drohende, gigantische Energiekrise im kommenden Winter lässt ihm keine andere Wahl. Realpolitik mit wenig Spielraum, will man nicht die Wirtschaft komplett abwürgen.
Es ist genau vier Jahre her, da gab es nach der bayerischen Landtagswahl mit grünem Rekordergebnis einen Robert Habeck, der sich von der Bühne ins Wahlkampfpublikum fallen ließ und auf Händen zurück zur Bühne getragen wurde. Doch die Zeiten des Stagedivings sind für ihn spätestens nach der restlos verpatzen Gasumlage endgültig vorbei. Welt verkehrt bei den Grünen. Ein ceterum censeo der Grünen war immer, die Energiepreise in Deutschland als viel zu günstig anzuprangern. Unvergessen die Forderung der ehemaligen Spitzenkandidatin Renate Künast nach einem Spritpreis von fünf D-Mark. Das war noch in den 90er Jahren.
Heute ist dieses Ziel an den Tankstellen fast erreicht. Zudem haben sich die Gaspreise innerhalb dieses Jahres mindestens vervierfacht, die Strompreise mindestens verdoppelt. Eigentlich müsste es bei den Grünen auf dem ersten Präsenz-Parteitag seit vier Jahren in Bonn viel Jubel geben: mission accomplished.
Die Frage sozialer Gerechtigkeit
Doch die jetzt ungewollt erfüllte „Mission Energiepreise" wird zum sozialpolitischen Bumerang (vor dem übrigens schon damals gewarnt worden war). Die Energie- und Klimawende ist längst eine Frage der sozialen Gerechtigkeit geworden, auf die die Grünen keine wirkliche Antwort haben, Parteitagsbeschlüsse hin oder her.
Dazu kommt, dass die Ökopartei längst außerparlamentarisch auf der Klimaspur von mindestens drei klimapolitischen Fundamentalgruppen überholt worden sind. Das wiederum wird parteiintern auch der seit Februar amtierenden Co-Sprecherin und eigentlichen Grünenchefin Ricarda Lang angelastet. Die 28-Jährige hat eine beispiellose Parteikarriere hingelegt. Beim letzten Präsenz-Parteitag Ende Januar 2018 in Hannover war sie noch Sprecherin der Grünen Jugend. Während damals Ricarda Lang mit ihren jugendlichen Mitstreitern in einer warmen Messe in Hannover Parteitagsanträge bei Pizza vom Lieferservice diskutierte, war Fridays for Future (FFF) längst auf der Straße. Zwar ist es den Grünen gelungen, das Gesicht von FFF, Luisa Neubauer, als Parteimitglied zu gewinnen, doch irgendwie ist die 26-Jährige aus Hamburg nicht so richtig gewillt, auf Parteitagen Anträge zu stellen. Ihre Heimat bleibt der Protest auf der Straße. Dies in Konkurrenz zu den radikaleren Klimagruppen Extinction Rebellion und Letzte Generation, die mit den Grünen nun überhaupt nichts mehr am Hut haben. Die wollen den sofortigen Ausstieg aus der fossilen Energiegewinnung. Den wollen auch die Grünen, aber eben nicht sofort und in aller Konsequenz. Die Grüne Partei hat zu großen Teilen längst den Kontakt zu den Klimagruppen außerhalb der Partei verloren, und das nicht nur in der jüngeren Generation.
Ebenso schwierig ist für die selbsternannte Friedenspartei der Umgang mit dem Krieg in der Ukraine. Erinnerungen werden wach. Vor über zwanzig Jahren war es der grüne Außenminister Joschka Fischer, der auf dem damaligen Parteitag in Rostock für das militärische Nato-Engagement Deutschlands gegen Serbien unter Farbbeutelwürfen argumentierte. Jetzt ist es die grüne Außenministerin Annalena Baerbock, die massive deutsche Waffenlieferungen für die Ukraine fordert und dabei selbst Bundeskanzler Scholz (SPD) in die Enge treibt. Was die grüne Pazifisten-Seele auf dem Parteitag noch mehr irritiert: Selbst Parteiliebling und Friedensapostel Anton Hofreiter mutierte in den letzten Monaten zum Kriegsexperten und erläuterte in zahlreichen Talkshows im Militärjargon die Vorteile von Waffensystemen und deren fachgerechte Munitionierung, die Deutschland liefern müsse.
Die grüne Parteitagsregie greift in diesen widersprüchlichen Entwicklungen auf ein bekanntes Verfahren zurück: Anträge stellen, diskutieren, aber nicht abstimmen, sondern in die Gremien und Ausschüsse zur weiteren Behandlung überweisen.
Beim 48. Konvent der Grünen handelt es sich für die grüne Führung glücklicherweise um einen ordentlichen und nicht um einen Wahlparteitag. Der steht turnusgemäß erst nächstes Jahr wieder auf dem Programm. Spätestens dann müssen die Grünen Farbe bekennen.