Soll Russland wieder stärker in die Sportgemeinschaft aufgenommen werden? Noch sind die Sanktionen wegen des Angriffskriegs in der Ukraine nicht aufgehoben, doch die Stimmen nach einer Lockerung werden lauter.
Schätzungsweise eine Milliarde Menschen weltweit haben sich das Finale der Fußball-WM in Katar zwischen Argentinien und Frankreich angeschaut. Kein Wunder also, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj diese Bühne gerne für eine Botschaft genutzt hätte. Zumindest berichtete der US-Sender CNN von einem Vorschlag ukrainischer Vermittler, dass unmittelbar vor dem Anpfiff des Endspiels auf der Videoleinwand eine Selenskyi-Ansprache gezeigt werden könnte. Dies soll der Fußball-Weltverband Fifa aber abgelehnt haben, was auf ukrainischer Seite auf Unverständnis stieß. „Wir dachten, die Fifa wollte ihre Plattform für das Allgemeinwohl nutzen“, wurde die Quelle in der CNN anonym zitiert.
Wie politisch ist der Sport?
Mit Blick auf die zweifelhafte Haltung der Fifa in Katar bei der Debatte um die „One Love“-Armbinde, die den europäischen Kapitänen um Manuel Neuer unter Androhung von Sanktionen verboten worden war, ist das allerdings keine Überraschung. „Wir wissen, dass Fußball nicht in einem Vakuum lebt, und wir sind uns ebenso bewusst, dass es überall auf der Welt viele Herausforderungen und Schwierigkeiten politischer Art gibt“, schrieb Fifa-Präsident Gianni Infantino vor der WM an die nationalen Verbände: „Aber lassen Sie bitte nicht zu, dass der Fußball in jeden ideologischen oder politischen Kampf hineingezogen wird, den es gibt.“
Der Sport ist also unpolitisch? Das ist im besten Fall eine naive Vorstellung. Wenn Russland mit einer Armee aus Panzern die Ukraine überfällt und täglich Bomben auch auf die Infrastruktur des Nachbarlandes niedergehen lässt, muss sich natürlich auch der Spitzensport damit auseinandersetzen. Ob er es will oder nicht. Ansonsten ist das einst auch von Nelson Mandela aufgegriffene Mantra, dass der Sport die Kraft habe, „die Welt zu verändern“, nur eine hohle Phrase. Es war fast schon bezeichnend, dass die Fifa Ende Februar erst auf Druck der Verbände Polens, Tschechiens und Schwedens die russische Fußball-Nationalmannschaft von den WM-Playoffs ausschloss. Die Verbände hatten zuvor mit einem Boykott gedroht.
Der europäische Fußball-Verband Uefa hat die National- sowie Clubmannschaften aus Russland ebenfalls suspendiert, das im vergangenen Mai in Sankt Petersburg geplante Champions-League-Finale nach Paris vergeben und den Sponsorenvertrag mit Gazprom beendet. Weil Russland durch den Ausschluss nach aktuellem Stand auch nicht an den Qualifikationen für die EM 2024 in Deutschland und die WM 2026 in den USA, Mexiko und Kanada teilnehmen kann, denkt der russische Verband über einen Wechsel zum asiatischen Kontinentalverband nach.
Eine solche Hintertür gibt es bei Olympia nicht. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat unmittelbar nach Kriegsbeginn den Einmarsch Russlands in die Ukraine „mit Nachdruck“ verurteilt und ihn als Bruch des Olympischen Friedens bezeichnet. Der olympische Frieden, der auf eine rund 3.000 Jahre alte Tradition des antiken Olympia zurückgeht und den alle 193 UN-Mitglieder unterschrieben hatten, endete 2022 erst am 20. März. Russland marschierte aber nur drei Tage nach dem Ende der Winterspiele in Peking in die Ukraine ein.
Die Lage ist auch sportpolitisch kompliziert. Das Land begeht zwar unter Mithilfe von Belarus ganz offensichtlich Verbrechen gegen das Völkerrecht, seine Sportler aber nicht. Was ist also die gerechte Sanktion? Unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges rief das IOC alle Sportverbände dazu auf, geplante Veranstaltungen in Russland und Belarus abzusagen. Außerdem sollte bei Veranstaltungen keine russische oder belarussische Nationalflagge mehr gezeigt und die russische oder belarussische Hymne nicht mehr gespielt werden. Diese Maßnahme ist auch heute, elf Monate später, noch immer aktuell.
Selenskyi kontra Bach
„Die Sanktionen gegen die russischen und belarussischen Staaten und Regierungen müssen und werden auch weiterhin bestehen bleiben“, schrieb IOC-Präsident Thomas Bach in seinem Neujahrsgruß. Auch im Jahr 2023 könnten die ukrainischen Athleten „auf das volle Bekenntnis der Solidarität seitens des IOC und der gesamten Olympischen Bewegung zählen“, ergänzte Bach: „Wir wollen eine starke Mannschaft des ukrainischen Nationalen Olympischen Komitees bei den Olympischen Spielen in Paris 2024 und den Olympischen Winterspielen in Mailand/Cortina 2026 sehen.“
Und eine Rückkehr von Russland und Belarus? Schon in diesem Jahr stehen wichtige Qualifikations-Wettbewerbe für Olympia 2024 auf dem Plan. Und längst werden Signale möglicher Lockerungen der Sanktionen gesendet. Hier sorgte Bach zuletzt für Wirbel, als er die Türen für Athleten aus dem Riesenreich verbal geöffnet hatte. „Sie können nicht für Handlungen ihrer Regierungen bestraft werden“, hatte Bach bei einer Sitzung der IOC-Exekutive gesagt, „wir untersuchen Wege, ihre Teilnahme zu ermöglichen“. Dazu gehört auch das einstimmige Votum beim jüngsten Olympia-Gipfel in Lausanne zur Prüfung eines entsprechenden Antrags des asiatischen Dachverbands. Demnach soll geklärt werden, ob Russen und Belarussen, die die olympische Charta und die Sanktionen wegen des Angriffskrieges respektieren, wieder an internationalen Wettbewerben teilnehmen dürfen.
Diese jüngsten Aussagen und Vorgänge sorgten dafür, dass Selenskyi zum Telefon griff und Bach persönlich anrief. „Eine faire Antwort für einen Terrorstaat kann nur seine völlige Isolation in der internationalen Arena sein“, teilte der ukrainische Präsident nach eigenen Angaben dem IOC-Boss mit. Selbst vom Start russischer Athleten unter neutraler Flagge hält Selenskyi nichts: „Wir können nur eines sagen: Eine weiße oder neutrale Flagge ist unmöglich für russische Athleten, all ihre Flaggen sind blutgetränkt.“
Im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) steckt man bei der Russland-Frage „in einem grundsätzlichen Dilemma“, wie Vizepräsident Torsten Burmester in der ARD-Sportschau zugab: „Wir sperren Aktive aus, wir brechen zivilgesellschaftliche Kontakte in Kultur, Wissenschaft und Sport ab.“ Man müsse immer wieder hinterfragen, „ob Boykottmaßnahmen wirksam sind“. Im deutschen Sport beantworten die Verantwortlichen diese Frage noch mit „ja“. Der DOSB fordere weiterhin „den Ausschluss von russischen, belarussischen Athletinnen und Athleten“, so Burmester, es gebe aktuell „keinen Anlass, über diese Position nachzudenken“.
Auch Sprecherin Karla Borger von Athleten Deutschland hält eine Rückkehr Russlands in die Welt des Sports aktuell für falsch. „Der Völkerrechtsbruch, der da begangen wird, wiegt viel zu schwer“, sagte die Beachvolleyballspielerin dem NDR. Man müsse die Entwicklungen stets prüfen und bei Veränderungen „unsere Position auch anpassen“ – aber dieser Zeitpunkt sei noch nicht gekommen.
Auch das Thema Doping stellt sich
Diese Haltung deckt sich mit der der Bundesregierung. „Es ist nicht an der Zeit, Putins Russland zu internationalen Sportgroßereignissen einzuladen“, sagte die für den Sport zuständige Bundesinnenministerin Nancy Faeser der „FAZ“: „Der Sport sollte in der Verurteilung des menschenverachtenden Krieges konsequent bleiben.“ Allerdings sind hier längst nicht alle Sportverbände so konsequent wie von Politikern des Westens gefordert. Bei den Australian Open schlagen aktuell wieder russische und belarussische Tennisprofis um den Vorjahresfinalisten Daniil Medwedew auf, nachdem sie beim Grand-Slam-Turnier in Wimbledon noch gesperrt waren. Die Entscheidung der Wimbledon-Macher hatten die mächtigen Spielervereinigungen ATP und WTA als „eine Diskriminierung auf Grundlage einer Nationalität“ scharf kritisiert. Als eine Art Gegenmaßnahme wurden beim traditionellen Rasenturnier keine Weltranglistenpunkte für ATP und WTA vergeben.
Komplett auf Sanktionen verzichtet gar der Amateurbox-Weltverband IBA, der nicht nur Athleten aus Russland und Belarus wieder unter deren Flagge bei internationalen Turnieren teilnehmen lässt, sondern auch den Vertrag mit Hauptsponsor Gazprom verlängert hat. Diese Maßnahmen verwundern wenig, wenn man sieht, wer dem Verband als Präsident vorsteht: Umar Kremlew aus Russland. Deutsche Boxer werden an Turnieren mit russischer oder belarussischer Beteiligung nicht starten, weil das Bundesinnenministerium in diesem Fall Fördermittel für den Verband streichen würde. Dem von der Politik klar vorgegebenen Kurs folgt der Deutsche Boxsport-Verband, „und zwar aus politisch-moralischen Gründen“, wie DBV-Sportdirektor Michael Müller betonte: „Da stehen wir voll hinter.“
Der Niederländer Boris van der Vorst, der gegen Kremlew gerne die Präsidentschaftswahl gewonnen hätte, kritisierte scharf: „Die IBA wird von der russischen Führung als Geisel gehalten.“ Für die IBA könnte die Haltung in der R-Frage zum endgültigen Aus bei den Olympischen Spielen führen. Der Problemverband wurde in der Vergangenheit mehrfach wegen des fehlenden Reformwillens abgestraft und ist seit 2019 suspendiert. „Die IBA hat kein wirkliches Interesse am Boxsport, sondern ist nur an ihrer eigenen Macht interessiert“, ließ das IOC in einem Schreiben verlauten.
Was wegen des aktuellen Krieges untergeht: Russlands Sport wird auch wegen des nachgewiesenen Staatsdopings international abgestraft, bis Ende Dezember war die russische Anti-Doping-Agentur Rusada gesperrt. Eine schnelle Wiedereingliederung in die Welt-Doping-Agentur erscheint angesichts weiterhin eklatanter Lücken im System fraglich.