Vom Armenhaus zum angesagten Viertel – auch dem Soldiner Kiez in Berlin-Wedding bleiben aktuelle Entwicklungen nicht erspart. Doch noch immer gilt: Das Herz des Viertels schlägt in der Eckkneipe.
Um kurz vor 9 übernimmt Willy von der Nachtschicht. Sein grauer Schnurrbart ist akkurat gezogen, die Tolle sitzt. Dafür muss er sich aber jeden Morgen die Haare waschen. „Sonst wird dit nüscht, meine Haare sind zu dünne und strippig und fetten schnell." Der knapp 70-Jährige legt sehr viel Wert auf sein Äußeres. Und das ist auch wichtig bei seinem Job: Seit mehr als 40 Jahren steht er jeden Tag hinter dem Tresen im Soldiner-Eck. Wochenenden? Kennt er nicht, macht aber auch nichts – sein Arbeitsplatz ist gleichzeitig sein Zuhause. Seiner Frau Inge geht es genauso, allerdings ist sie meist ein paar Minuten später in ihrem Wohnzimmer. „Frauen brauchen halt imma länger", bemerkt Willy Domscheit und kocht unterdessen schon mal frischen Kaffee.
Aber da geht die Kneipentür schon auf und seine Inge kommt. Auch sie herausgeputzt, der schwarze Lidstrich sitzt. Inge wird 77 Jahre alt, seit fast 40 Jahren ist sie mit Willy verheiratet, seit 42 Jahren besitzt sie das Soldiner-Eck. Willy hat sozusagen in die Kneipe eingeheiratet. Niemand kennt damit den Kiez zwischen Bornholmer Brücke, Prinzen- und Osloer Straße besser als die beiden. Ursprünglich kommt Inge aus dem Kiez Bülowbogen in Schöneberg, doch dann übernahm sie das Soldiner-Eck. „Damals gab es hier im Dreh noch über 20 solcher Eckkneipen wie das ‚Soldiner‘", erzählt Inge. Alle Kneipen waren damals ab dem Vormittag bumsvoll. Den Begriff „Soldiner Kiez" gab es Mitte der 70er-Jahre noch nicht – der Rest von Westberlin sprach über diese Gegend nur verächtlich vom „tiefsten Wedding". Das waren die alten Mietskasernen mit drei oder vier Höfen, fast alle Häuser noch kriegsbeschädigt und mit dem Klo auf halber Treppe.
Anderthalb Zimmer mit Ofenheizung kosteten damals um die 40 Mark Miete. Die ehemaligen Arbeiterquartiere in Schöneberg und Kreuzberg wurden gerade plattgemacht, „kahlschlagsaniert", wie das damals hieß, da lebte dieser Kiez noch einmal richtig auf. „Als ich den Laden hier übernommen habe, da wohnten hier noch richtige Arbeiter", sagt Inge Domscheit. Für sie bedeutete das, auch immer Mittagessen anzubieten, und zwar ab 10 Uhr morgens. „Das war damals hier eine sehr ärmliche, aber herzliche Gegend. Jeder hat dem anderen geholfen, so gut es ging. Ich habe immer angeschrieben und meine Deckel wurden immer bezahlt", erzählt sie. Damals war jeden Freitag noch Zahltag und zwar bar auf die Hand. Einige Firmenchefs machten das dann am Freitagnachmittag im Soldiner-Eck. Vorteil für die Domscheits: Ihre Bierdeckel wurden umgehend ausgelöst.
Das Dreieck zwischen Bornholmer Brücke, S-Bahnhof Schönholz und Osloer Straße lag genau im Windschatten der Berliner Mauer. Von Luftqualität konnte man hier in den 70ern nicht sprechen: Auf beiden Seiten wurden alle Wohnungen noch mit Kohleöfen beheizt. Drüben im Prenzlauer Berg wurde die feuchte Braunkohle mit sehr niedrigem Brennwert verfeuert, hier auf der Westseite minderwertige Presskohle. Dementsprechend roch im Winter alles in der Gegend nach Schwefel. „Da konntest du so viel Weichspüler in die Wäsche machen, wie du wolltest. Nach einer Stunde auf der Leine hattest du den Schwefelgeruch wieder drin", erinnert sich Inge Domscheit. Im Sommer bei Hitze standen dann die Autoabgase in den Straßen. Katalysatoren waren Ende der 70er-Jahre noch nicht erfunden.
Die vielen Eckkneipen im Kiez erklären sich durch die Beschaffenheit der Wohnungen. Diese waren sehr eng bemessen, in der Regel bloß anderthalb bis zwei Zimmer. Und während Muttern kochte, ging „Männe" noch mal runter „auf ’ne Molle", sozusagen in das der Wohnung vorgelagerte Wohnzimmer.
War Muttern fertig, wurde im Soldiner-Eck durchgerufen. Das Telefon war damals in diesen doch sehr beschaulichen Verhältnissen der ganze Stolz. Wirtin Inge schickte die Männer dann hoch zum Essen. Doch trotz der allgegenwärtigen Armut, oder vielleicht auch gerade deswegen, wurde ordentlich gefeiert. „Jedes Wochenende war hier was los. Natürlich ging das nicht immer gut", muss Inge zugeben. „In den 80ern war die Polizei mindestens einmal am Tag hier, weil ständig irgendjemand rumgestänkert hat."
„Die Veränderungen merke ich sofort bei mir am Tresen"
Doch mit der Zeit veränderte sich der Kiez, weil sich auch West-Berlin insgesamt veränderte. Immer mehr Industriebetriebe gingen ab Anfang der 80er pleite oder verließen die Mauerstadt. Aus den Arbeitern wurden Arbeitslose. Weniger Geld, weniger Kneipe. Wer einen neuen Job fand, zog meist weg aus der alten Heimat an der Soldiner Straße. Spätestens mit dem Mauerfall kam es auch hier zu einem tief greifenden Wandel. „Wir haben das daran gemerkt, dass eine Eckkneipe nach der nächsten zugemacht hat." Aus den ehemaligen original Berliner Kneipen wurden Dönerbuden, Teehäuser oder Gemüseläden. „Mit unseren neuen Nachbarn haben wir uns sofort gut verstanden, aber die hatten natürlich wenig Interesse an Bier und Schnäpschen", sagt Inge und lacht. Ab Mitte der 90er-Jahre zogen dann viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien in den Kiez. Die tranken zwar wiederum gern ein Schnäpschen, doch lösten sie verbale Konflikte am Tresen doch sehr schnell mit den Fäusten. Oder es passierte noch Schlimmeres: Immer wieder machte der Soldiner Kiez durch Schießereien Schlagzeilen. Eine ganze Wohngegend geriet unter Generalverdacht.
„Das war eine schlimme Zeit, obwohl bei uns im Kiez auch nicht viel mehr passierte als in Neukölln oder im Märkischen Viertel, aber wir landeten immer in den Schlagzeilen", beschwert sich Inge Domscheit. Obendrein wurde sie in ihrer Eckkneipe in dieser Zeit drei Mal überfallen. Beim letzten Überfall konnte Inge den Täter identifizieren, er sitzt noch immer im Knast.
Doch auch diese harte Zeit scheint nun vorüber, dank Quartiermanagement und vermehrter Polizeipräsenz. Inzwischen ist das Soldiner Eck die letzte Berliner Eckkneipe weit und breit. Das erklärt wohl auch, weshalb Inge und Willy von den Umsätzen immer noch leben können. „In den letzten vier, fünf Jahren verändert sich unser Zuhause jetzt schon wieder von Grund auf. Jetzt ziehen sehr viele junge Leute und auch Paare hier in unsere Ecke. Ich merke das sofort bei mir am Tresen", erzählt Inge. Die ehemaligen Szene-Lieblingsquartiere in Kreuzberg oder Charlottenburg waren für die jungen Menschen in der Ausbildung längst unbezahlbar geworden. Stattdessen ging es in den Reuterkiez in Neukölln – oder eben ab in den Wedding. „Doch damit wird das auch langsam eng, die wollen jetzt hier bei uns für eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit 50 Quadratmetern tatsächlich schon über 600 Euro kalt haben. Da ist nicht mal eine Küche drin, die musst du dir dann noch dazu kaufen", klagt Willy Domscheit. Vor 40 Jahren hat er für so eine Wohnung nicht mal eine D-Mark pro Quadratmeter kalt bezahlt.
Das Wirts-Ehepaar macht sich Sorgen um seine alte Heimat. Die massiv steigenden Mieten könnten auch diesen Kiez kippen lassen – Stichwort: Gentrifizierung. Die alten Mieter verschwinden, neue, solvente kommen. Keine 500 Meter entfernt, östlich der S-Bahn-Trasse im Prenzlauer Berg, ist dieser Prozess bereits abgeschlossen. Dort hat seit dem Mauerfall ein beinahe vollständiger Austausch der Bewohner stattgefunden. Willy unkt bereits: „Man kann nur hoffen, dass die jetzt hier nicht auch noch die Miete von unserem Laden erhöhen, denn dann müssten wir hier auch raus." Doch Inge beruhigt: Der Vermieter sei in Ordnung, „der will doch gar nicht erhöhen, wat du imma erzählst". Aber das gehört wohl einfach dazu. In der guten Stube vom Soldiner Kiez wird halt immer viel erzählt. Und das schon seit fast 100 Jahren.