Mit ihren hohen Umfragewerten im Rücken tritt sie sicher und bestimmt auf: Annalena Baerbock weiß, wie sie wirkt. Mit ihr zöge eine neue Generation ins Kanzleramt.
Jung, dynamisch, energisch – Annalena Baerbock hatte von Beginn an unter den Grünen den Ruf, eine Macherin zu sein. Sie sammelte Parteiämter wie andere Leute Briefmarken: Vorstand in der Europäischen Grünen Partei, Mitglied im Parteirat, Vorsitzende des Landesverbandes Brandenburg, Mitglied in vier Ausschüssen im Bundestag. Anders als ihr Mitstreiter Robert Habeck, der eher mit dem Renommee der Nachdenklichkeit, des Zögerns und Abwägens spielt. Mit ihr als durchsetzungsstarke Spitzenkandidatin für das Kanzleramt, so ein ungenannter Spitzengrüner, würde ihre Partei stabil zwischen 17 bis 19 Prozent holen, mit Habeck unsichere 14 bis 24. Also wäre sie als Kandidatin verlässlicher.
Natürlich wird ihr vom politischen Gegner ihre mangelnde Erfahrung vorgeworfen. Olaf Scholz hat in einer Talkshow genüsslich vorgezählt, welche Ämter er alle schon innegehabt hat, vom Bürgermeister bis zum Vizekanzler. Baerbock grinst und macht geltend, dass ihre Aufgaben als Parteichefin, Abgeordnete und Mutter kleiner Kinder sie gestählt haben. Dazu verweist sie gern auf die neuseeländische Premierministerin Jacinda Arden, die gleich alt ist und bei der es ja auch mit Kindern und Partei funktioniere.
Egal was kommt – sie arbeitet die Liste ab
Ihre Hände sind geöffnet, Gesten setzt sie sparsam ein, die stimmliche Tonlage ist weder schrill noch piepsig, im Chor sänge sie beim „Alt“ mit. Sie muss dieses Image „jung und dynamisch“ durch den Wahlkampf tragen, damit ihre Forderung nach einem Neuanfang durchdringt. Die Chancen dafür stehen günstig. So viel Wechselstimmung vor einer Bundestagwahl war noch nie, sechs von zehn wollen einen Wechsel der Bundesregierung, 67 Prozent einen Politikwechsel, fasst Robert Vehrkamp, Demokratieexperte von der Bertelsmann-Stiftung, die Ergebnisse einer Allensbach-Umfrage zusammen: „Die Zeichen stehen auf Wechsel, und zwar nicht nur auf einen Wechsel in der Regierung, sondern vor allem auf einen echten Politikwechsel.“ Vehrenkamp saß bei einer Debatte im rbb zwischen Scholz und Baerbock mit dabei. Wer diese Wechselstimmung unter die Flügel bekomme, brauche sich am Wahltag keine Sorgen um sein Ergebnis zu machen, kommentierte er in der Runde. Das klingt einfach zu gut für die Grünen, und Scholz guckt etwas bedröppelt. Doch Baerbock widersteht der Versuchung aufzutrumpfen.
Sie erklärt viel, redet schnell und gekonnt von den Wählern auf dem Land und in der Stadt, denen man jeweils gerecht werden müsse. Auf Einwände wirft sie immer wieder ein, dass man das jetzt „ganz, ganz genau“ betrachten müsse, und nur wer die Einzelheiten kenne, könne richtig urteilen. Das kommt immer wieder, wie ein rhetorisches Stilmittel. Damit festigt sie den Eindruck, dass sie ihr Metier bis ins Kleinste beherrscht, etwa wenn sie die Feinheiten des US-Haushalts erklärt. Egal, was kommt, Klimaschutz, Wohnungsbau, Verteidigungspolitik, Außenpolitik, Coronakrise – die Liste arbeitet sie ab. Sie ist bekannt dafür, dass sie sich vor jedem wichtigen Auftritt von den Experten aus ihrer Fraktion briefen lässt. Trotzdem liegt sie bei den innerdeutschen Flügen, die sie zugunsten der Bahn verbieten möchte, nicht ganz richtig: Ein Flug Berlin-Saarbrücken und zurück beispielsweise kostet 287 Euro und ist damit wesentlich teurer als ein Bahnticket (noch dazu mit Bahncard 50). Aber es geht ja nicht nur um die Kosten.
Baerbock hat an der London School of Economics and Political Science Völkerrecht studiert, erhielt dort ihren Master in „Public International Law“. Das war ein Anlass nachzubohren: Ist sie nun Master oder nennt sie sich zu Unrecht so, weil sie keinen Bachelor gemacht hat? Den aber gab es damals noch gar nicht in Deutschland. Um Zweifel auszuräumen, veröffentlichte die Partei prompt alle ihre Zeugnisse. Es wird nicht der einzige Angriff bleiben: So wird ihr vorgerechnet, dass sie Nebeneinkünfte (Prämien, Weihnachtsgeld, Sonderzahlungen) aus den Jahren 2018 bis 2020 für sie als Parteichefin erst nachträglich gemeldet hat. Eigentlich hätte Baerbock die Einnahmen innerhalb von drei Monaten melden müssen. Tatsächlich hat sie dies aber erst Ende März getan, nachdem der Geschäftsstelle der Fehler aufgefallen war.
Kandidaten werden intensiv durchleuchtet und bietet sich eine Gelegenheit, auch gegrillt. Baerbock macht nicht den Eindruck, dass sie das nicht durchsteht. Sie kann rigoros sein: Als Grünen-Vorsitzende zögerte sie nicht, Boris Palmers Postings als abstoßend und rassistisch zu verurteilen und ihn quasi aus der Partei zu werfen. Robert Habeck bekannte nach der choreografisch glänzend gestalteten Kandidatenkür für Annalena, dass das für ihn der „schmerzhafteste Tag in seiner politischen Laufbahn“ war. Baerbock ging mit ihrem Siegerlächeln darüber hinweg.
Ob sie die Partei im Griff hat, wird sich bei der nächsten Bundesdelegiertenkonferenz zeigen, wenn es darum geht, den Kreuzberger Grünen ihr Vorhaben, „Deutschland“ aus dem Programm zu streichen, auszureden. Mehr als 3.000 Änderungsanträge hat die traditionell linke Basis eingebracht – ein Rekord. Darunter die Forderung nach einem Stopp für den Bau von Autobahnen, einem „verbindlichen Mietenstopp auf Bundesebene“ und einer Ausweitung des Arbeitslosengelds.
Außenpolitisch bewegt sie sich im Mainstream mit ein paar grünen Akzenten. Mehr diplomatische Bemühungen für einen Frieden im Nahen Osten, starkes Europa gegen die übermächtige Konkurrenz aus China, transatlantische Partnerschaft, aber für die EU-Gremien: Mehrheitsprinzip statt Einstimmigkeit. Im Zweifelsfall handele die EU halt mit einer „Koalition der Willigen“. Für die Zwei-Prozent-Forderung der Amerikaner hat sie eine patente Lösung: Deutschland baut für das Geld ein internationales Cyber-Abwehr-Zentrum auf. „Einfach nur mehr Geld in ein System zu kippen, wo der Boden ein Sieb ist, das wird nicht zu mehr Sicherheit führen. Wir müssen unsere Projekte und Ziele schon sehr klar definieren“, sagt sie.
Der Kampf mit der Basis kommt noch
In einem anderen, vom WDR inszenierten „Triell“ der drei Kanzlerkandidaten Laschet, Scholz und Baerbock fragt die Moderatorin am Ende überraschend: „Brauchen wir denn überhaupt noch eine grüne Kanzlerin?“ Denn die drei Kandidaten waren sich so etwas von einig, dass sie nur Nuancen zu trennen schienen, sowohl in der Außenpolitik, als auch bei der Zukunft Europas wie im Ziel der Klima-Neutralität. In solchen Mega-Talkrunden wird auf die entscheidende Frage meist gar nicht eingegangen. Sie lautet: Wie kommen wir dahin? Welche Instrumente setzt eine künftige Regierung ein? Wo kommt das nötige Geld her?
Wenn dann Baerbock verspricht, ab 2030 keine Produktion von Autos mit Verbrennungsmotor mehr zuzulassen – basta –, wird sie nicht nur Wohlwollen ernten. Das geht gegen die Autobosse und den Dieselfahrer auf dem Land, der seinen Transporter braucht. Steuererhöhungen? Ja gerne für Einkommen ab 100.000 Euro (Alleinstehende). Vermögenssteuer, Mindeststeuer für die Konzerne – irgendwo muss das Geld für die vielen Versprechungen, die im Wahlprogramm stehen, ja herkommen. Bisher ist Annalena Baer-bock ganz gut darin, auszuweichen, um nicht allzuviel über die Mittel und Wege zu sprechen, die den industriellen Umbau voranbringen sollen. Denn da geht es zur Sache, und es könnte sein, dass viele sich abwenden, weil die Grünen zu viel von ihnen verlangen.
Vor kurzem veröffentlichte der „Spiegel“ ein Titelbild mit einer strahlenden Baerbock, das fatal an einen ähnlichen Titel mit dem Konterfei von Martin Schulz vor fünf Jahren erinnerte. Damals rollte der „Schulzzug“ auf die 30 Prozent für die SPD zu. Doch er entgleiste am Ende auch deswegen, weil nicht ganz klar war, wie Martin Schulz seine Ziele umsetzen wollte: vielleicht doch mit einem rot-roten Bündnis? Das hat viele Wähler verschreckt. Einen ähnlichen Hype, der womöglich aus der Kandidatin Annalena „Superwoman“ Baerbock machen würde, ist bisher nicht in Sicht. Sie täte gut daran, so etwas zu unterbinden. Denn wer hoch springt, kann tief fallen – das müsste die ehemalige Meisterin im Trampolinspringen wissen.
Ein Bild wirkt mehr als tausend Worte – da zeichnet sich nach dem ersten Dreiertreffen bereits ein klares Muster ab. Es reden zwei ältere graue Herren mit einer jungen, hellwachen Frau, die ihnen sagt, wo es lang geht. Man muss sich nur die etwas verkniffenen Lippen ansehen, wenn die beiden schweigen müssen. Die Grünen haben sich richtig entschieden, der Politologe Albrecht von Lucke hat es so formuliert: „Sie wären ja verrückt, wenn sie den altgedienten Herren nicht die junge frische Annalena Baerbock entgegenstellen würden.“