Die Roma sind die größte ethnische Minderheit in Europa. Das digitale „RomArchive" gibt jetzt einen umfassenden Einblick in 600 Jahre vielfältige Kulturgeschichte.
Sie leben seit über 600 Jahren unter uns, aber wahrgenommen wurden sie nie so richtig. Ihre Kultur blieb uns fremd, wir haben sie verfolgt, versklavt, kriminalisiertd oder als lebenslustige, umherziehende Landfahrer bestaunt, waren von ihrer Musik, der farbfrohen Kleidung, der Kunst fasziniert. Aber es waren ja „nur Zigeuner". Wer wollte schon etwas mit ihnen zu tun haben?
Stereotypen und Vorurteile bestimmen bis heute ihr Bild – ein gutes Beispiel ist die Fotografie. Bei der Suche nach Belegstücken für das RomArchive sei unter Tausenden Bildern kaum ein Dutzend gefunden worden, die Roma und Sinti nicht negativ oder als exotische Fremde zeigten, sondern würdevoll und mit Namensnennung. Das sagt Kulturwissenschaftlerin Franziska Sauerbrey. „Meist stand da vielleicht nur ‚Zigeuner mit Kind‘ oder ‚Familie von Landfahrern‘".
Die Geschichte der mit zwölf Millionen Menschen größten ethnischen Minderheit Europas – unter dem Sammelnamen Roma (im Deutschen: Sinti und Roma) bekannt – ist immer nur aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft erzählt worden. Bis heute gibt es keinen Ort, an dem die Roma ihre Geschichte selbst erzählen und ihre Kultur präsentieren können. Diese Lücke will jetzt das RomArchive füllen, das digitale Archiv der Sinti und Roma, eine im Internet zugängliche, verlässliche Wissensquelle. Im Januar ging das Archiv online und wurde bei einem Festival in der Akademie der Künste vorgestellt.
Angestoßen wurde das Projekt von Franziska Sauerbrey und Isabel Raabe. Die beiden Kulturwissenschaftlerinnen hatten die Erfahrung gemacht, dass die vielfältigen Kulturen der Sinti und Roma in den europäischen Institutionen weitgehend unberücksichtigt bleiben. Sinti, Gitanes, Manouches, Lovara, Kalderasch, Gypsies, Jenische – schon die unterschiedlichen Namen für die Roma in Europa deuten auf die unterschiedlich ausgeprägten Kulturen hin, die sich im Austausch mit den Mehrheitsgesellschaften entwickelten. Das RomArchive will nun den Anteil, den sie über Jahrhunderte an der europäischen Kultur hatten und immer noch haben – etwa beim Flamenco oder dem Balkan Brass – sichtbar machen.
Fünf Jahre lang haben die Initiatorinnen daran mit einem internationalen Team gearbeitet. „Ein Anstoß für mich war", sagt Franziska Sauerbrey, „dass 2012 in Berlin endlich ein Erinnerungsort für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma geschaffen wurde, das Denkmal im Tiergarten neben dem Reichstagsgebäude." Es erinnert an die halbe Million Sinti und Roma, die während des Nationalsozialismus aus ganz Europa in die Vernichtungslager geschickt wurden. Niemand unter den Roma und Sinti hat das vergessen, und auch nicht, dass es bis in die 80er- Jahre dauerte, bis sich die deutsche Regierung zu Entschädigungszahlungen bereitfand. Noch heute leben viele Sinti eher zurückgezogen, ohne ihre Zugehörigkeit zu erwähnen. Die Angst vor Diskriminierung sitzt tief. Heute wissen wir, dass Marianne Rosenberg eine Sintezza ist, sie hat ihre Erinnerungen („Kokolores") aufgeschrieben. Aber dass auch Drafi Deutscher, Stones-Gitarrist Ron Wood, der Rapper Sido, die Schauspieler Yul Brynner und Rita Hayworth und vermutlich auch Charlie Chaplin Wurzeln in der ethnischen Minderheit der Roma oder Sinti haben, ist weniger bekannt.
Die beiden Kuratorinnen sind zwei Jahre lang durch Europa gereist und haben dabei mit den Vertretern der Minderheit gesprochen. „Wir waren davon überrascht, wie wenig von den Kulturen von Roma und Sinti sichtbar ist", sagt Franziska Sauerbrey. Der fast überall geäußerte Wunsch nach einem gemeinsamen Erinnerungsort führte zur Idee eines Internet-Archivs.
Material in zehn Themenbereichen
Verbunden mit der Vorbereitung des Archivs war viel Gremienarbeit. Ein Beirat wurde gebildet, der unter den Roma Kuratorinnen und Kuratoren auswählte, man verpflichtete Wissenschaftler und Übersetzer, Projektmitarbeiter und natürlich die Künstlerinnen und Künstler. „Doch das RomArchive hatte von Anfang an starke Partner", sagt Franziska Sauerbrey und nennt als erstes die Kulturstiftung des Bundes, die 3,75 Millionen Euro zur Verfügung stellte. Die Bundeszentrale für politische Bildung beteiligt sich ebenfalls und wird das Projekt weitere fünf Jahre fördern. Auch das Goethe-Institut und das Auswärtige Amt sowie weitere Förderer haben das Projekt finanziell unterstützt.
Das Archiv ist dreisprachig aufgebaut, Englisch, Deutsch und Romanes. Idealerweise kommen zukünftig weitere Sprachen hinzu, wie Italienisch, Spanisch, oder Ungarisch. Romanes, mit dem indischen Sanskrit verwandt, hat sich im Laufe der Jahrhunderte durch die Wanderwege und die Bindung an die Heimatregionen in unterschiedlichen Dialekten entwickelt. „Es ist vor allem eine mündliche Sprache", sagt Sauerbrey. „Wir haben uns beim Archiv für eine Vielfalt an Dialekten entschieden, damit sie von möglichst vielen Roma auf der Welt verstanden werden." Denn Vorhaben, Romanes künstlich zu vereinheitlichen, stoßen in der Minderheit nicht immer auf Gegenliebe. Roma-Schriftstellerinnen und -Schriftsteller benutzen ohnehin lieber die jeweilige Landessprache für ihre Bücher. Romanes oder der eigene Dialekt ist die Sprache der mündlichen Überlieferung der eigenen Kultur und Geschichte – und damit auch der Identität.
Noch steht das Archiv am Anfang. Doch was bereits jetzt auf den Webseiten zu finden ist, übertrifft alle Erwartungen. Franziska Sauerbrey: „Nutzer können sich durch Tausende Objekte klicken, mit Texten, Bildern und Videos. Dabei wandern sie durch 600 Jahre Kulturgeschichte, von Briefen aus dem Konzentrationslager bis zu Werken zeitgenössischer Künstler."
Der Internetauftritt ist in zehn Themenbereiche gegliedert – darunter Bildende Kunst, Film, Musik, Literatur, Tanz, Theater und Drama sowie eine Extra-Rubrik für den Flamenco. Wer sich in die Themen hinein navigiert, findet zum Beispiel unter Musik, Abteilung Klassik, einen Essay über Friedrich Liszt und wie er sich der Roma-Musik näherte, obwohl er die „Zigeuner" als impulsive, ungezügelte Wilde abtat. Oder über Brahms, der die „ungarische" Musik, die er von den Roma kannte, am Ende nahtlos in seine deutschesten Symphonien einbaute. Django Reinhardt beeinflusste Gitarristen auf der ganzen Welt. Sein Vermächtnis reicht weit über die Grenzen des Sinti-Jazz hinaus. Er war Wegbereiter neuer Improvisationstechniken für Sologitarre und gilt als einer der größten Jazzgitarristen der Geschichte. Kompositionen wie „Nuages" und „Minor Swing" sind Standards, die bis heute gecovert werden.
Im Kapitel „Flamenco" erinnern historische Berichte mit Videobeispielen und Fotos zum Beispiel an Joaquín Fernández Franco, genannt „Joaquín el de la Paula", geboren in der Nähe von Sevilla. Das Genie und musikalische Talent dieses Gitanos sind der Quell, aus dem die Soleá de Alcalá, eine der beiden Traditionslinien des Flamenco, hervorgegangen ist. Carmen Amayo (1913 bis 1963), eine Romni aus Barcelona, war eine der wichtigsten Flamenco-Tänzerinnen, die weltweit Stürme der Begeisterung auslöste. Sie musste 1936 aus Spanien fliehen, als Franco an die Macht kam, weil die Faschisten die spanischen Roma ausrotten wollten.
Im Themenbereich Literatur findet man unter anderem eine aufschlussreiche Abhandlung über die literarischen Werke der deutschen Sinti und Roma. Die ersten Bücher erschienen in den 80erJahren. Sie waren eine Reaktion auf die ausbleibende offizielle Anerkennung des Opferstatus von Sinti und Roma im Dritten Reich und handeln von der Verfolgung der Autoren und ihrer Familien während des Holocausts. So schreibt Philomena Franz unter dem Titel „Zwischen Liebe und Hass: Ein Zigeunerleben in Deutschland" über den Verlust ihrer Schwester, ihrer Mutter und anderer Familienmitglieder im Konzentrationslager. Aber sie gibt auch Einblicke in das Familienleben der Sinti und Roma vor und während des Zweiten Weltkriegs. 2008 berichtet Dotschy Reinhardt in ihrem Buch „Gypsy: Die Geschichte einer großen Sinti-Familie" von ihrem Leben als Musikerin, aber auch davon, wie sehr die Erfahrungen ihrer Sinti-Familie in Deutschland ihr eigenes Leben und ihre eigene Wahrnehmung beeinflussten.
Vorurteile haben weiter Bestand, weil die Mehrheitsgesellschaft noch zu wenig über den Reichtum der Kulturen von Sinti und Roma weiß. Das nun will das Archiv ändern. „Das Internet ist der ideale Ort für diese transnationale Minderheit, weil es von überall aus zugänglich ist", sagt Franziska Sauerbrey. Die Resonanz sei jetzt schon enorm. Von überall her komme Zustimmung, und viele schrieben, dass sie dem Archiv gern ihren Nachlass zur Verfügung stellen wollten. Der nächste Schritt? Im Mai geht es zur Biennale nach Venedig – eine gute Plattform, um das RomArchive noch bekannter zu machen.