Online-Lieferdienste wie Lieferando, Gorillas und Wolt boomen. Doch viele Mitarbeiter befinden sich in prekären Arbeitsverhältnissen. Die EU will Abhilfe schaffen.
Jetzt hat er auch noch ein eigenes Plattenlabel gegründet: Angestellte des Schnell-Lieferdienstes Gorillas können jetzt ihre eigene Musik produzieren und vertreiben. Und da ein Großteil der Mitarbeiter des Bring-Service vor allem kräftig in die Fahrradpedalen treten müssen, um ihren tagtäglichen Job zu erledigen, heißt das neue Label auch entsprechend: Pedal Records. Mit dem Label sollen ausschließlich Künstler aus den eigenen Reihen unter Vertrag genommen werden. Bisher sorgten bei Unternehmensfeiern Techno-DJs für den musikalischen Groove, auch in den Warenlagern läuft im Hintergrund Techno-Musik zur Mitarbeitermotivation. Schöne, neue Unternehmenswelt, in der man zwar nicht vom Tellerwäscher zum Millionär, aber immerhin vom einfachen Kurierfahrer zum angesagten Musikkünstler werden kann? Wahrscheinlich soll die neue Musikoffensive dem Unternehmen zumindest beim Recruiting helfen. Denn: „Die Lieferdienste benötigen Tausende Fahrer und locken neue Arbeitskräfte etwa mit 200-Euro-Boni an", schreibt das Magazin „Gründerszene".
Nach außen modern, im Inneren katastrophale Arbeitsverhältnisse
Bei näherer Betrachtung sind die Jobs bei Lieferdiensten wie Gorillas und Co. alles andere als rosig. Die Protestaktionen der Gorillas im vergangenen Jahr haben ihre mediale Wirkung entfacht. Sie sind keine gute PR für die Branche. „Nach außen geben sich diese Firmen hip und modern, doch nach innen sind ihre Arbeitsbedingungen katastrophal", kritisierte die an-gehende Juristin Sylvia Bayram von der Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht (Baga) bereits im Sommer (vergleiche FORUM-Ausgabe vom 9. Juli 2021). Auch ihr Mann, Ramazan Bayram, engagiert sich für die Rechte von Arbeitnehmern und ist für die Baga als sogenannter Organizer tätig. Er beobachtet die Entwicklungen bei den Lieferdiensten. Er sieht im Gespräch mit FORUM einen „Widerspruch zwischen der eigenen Darstellung der Unternehmen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und der Realität". Das, was viele Lieferdienst-Start-ups nach außen hin als attraktives Arbeitsmodell kommunizieren, kritisiert er scharf. Es sei eine „Verhöhnung der Arbeitsrealitäten der Mitarbeitenden", sagt er. „Ihr Arbeitsalltag ist nur durch Stress und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen geprägt." Die Kurierfahrer müssten „rund um die Uhr, auch bei Minusgraden und hohen Orkanstärken" arbeiten. „Dass das die Abnutzung der Gesundheit der Mitarbeiter innerhalb kurzer Zeit bedeutet, kann sich jeder vorstellen", so der Organizer.
Ramazan Bayram meint auch, dass die vielen Streiks im vergangenen Jahr gefruchtet haben. So etwa bei den Mitarbeitern von Gorillas. „Es gab sehr erfolgreiche Protestaktionen und auch die Betriebswahlen waren erfolgreich", so der Baga-Aktionist. Ende vergangenen Jahres war Gorillas auch in zweiter Instanz gescheitert mit dem Versuch, die Wahl eines Betriebsrates vor Gericht zu stoppen. So wurden Ende November mehr als ein Dutzend Mitarbeiter und ihre jeweiligen Stellvertreter in den Betriebsrat des Start-ups gewählt. Bayram freut das Engagement: „Wir sehen das als positive Entwicklung, wenn die Mitarbeitenden verstärkt in die Gewerkschaft eintreten und auch innerhalb der Firmen Gewerkschaften gründen." Das seien Grundvoraussetzungen für derartige Arbeitsplätze.
Das im Mai 2020 gegründete Start-up-Unternehmen sicherte sich im vergangenen Jahr innerhalb weniger Monate 244 Millionen Euro durch seine Investoren. Damit erreichte der Mitbegründer Kagan Sümer den sogenannten Unicorn-Status. Eine Marktbewertung, die so schnell kein Start-up in Deutschland zuvor erreichte. Nicht nur die Gorillas boomen, sondern auch die ganze Branche. „McKinsey schätzt den weltweiten Markt für Lebensmittellieferungen inzwischen auf über 150 Milliarden US-Dollar", schreibt das von der „Financial Times" unterstützte Gründer-Magazin „Sifted". Dies sei nur möglich, weil es „immer mehr Lieferküchen oder ‚Geisterküchen‘ gebe, die nur dazu da seien ,für die Lieferung zu kochen und die jetzt in den meisten europäischen Städten zu finden seien. Prognosen zufolge, so „Sifted", werde der globale Online-Lebensmittelmarkt bis 2027 voraussichtlich 1,1 Billionen US-Dollar Umsatz erreichen.
Während die Streiks bei den Berliner Mitarbeitern von Gorillas abgeebbt sind, beginnen anderswo in der Branche erneut die ersten Proteststürme. So stellten Ende Januar die Riders von „Lieferando", wie deren Kurierfahrer genannt werden, bei einer Kundgebung vor der Geschäftsstelle in Berlin-Kreuzberg ihre Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen vor. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hatte zu der Demo aufgerufen. Unter dem Motto „Riders unite, together we fight" demonstrierten Anfang Februar auch in Leipzig die in Orange gekleideten Fahrer des Bringdienstes. Die Riders wollen damit nicht nur für sich selbst, sondern auch für die gesamte Branche bessere Arbeitsbedingungen erstreiten. Erst im November hat das Landesarbeitsgericht Frankfurt die Rechte der Fahrradkuriere in einem Urteil gestärkt. Zwei Kurierfahrer hatten Lieferando verklagt. Danach muss das Unternehmen seinen Mitarbeitern ein Fahrrad, ein Smartphone und das notwendige Datenvolumen auf eigene Kosten zur Verfügung stellen. Lieferando will das Urteil ab März umsetzen.
EU will gegen Scheinselbstständigkeit gesetzlich vorgehen
Außerdem fordert die NGG einen festen Stundenlohn für die Fahrer „Aktuell richtet sich die Bezahlung im Grunde am gesetzlichen Minimum aus", zitiert die Deutsche Presseagentur Lou Anton Hauser von der NGG. Der Gewerkschaftler kritisiert auch das Bonussystem: Es animiere die Fahrer „über ihre eigenen Grenzen zu gehen" und fördere „selbstgefährdendes Verhalten", etwa durch Raserei. Ein Sprecher von Lieferando erklärte, dass die Angestellten durchschnittlich mehr als 13 Euro pro Stunde erhielten. Dennoch sind die Arbeitskonditionen durch Bezahlung knapp über dem Mindestlohn im prekären Bereich angesiedelt. Zudem arbeiten viele Kuriere in 450-Euro-Jobs.
Um faire Arbeitsbedingungen in der boomenden Branche kümmert sich jetzt auch die Europäische Union. So präsentierte die EU-Kommission Ende Dezember einen Gesetzentwurf gegen Scheinselbstständigkeit bei den beliebten Servicevermittlern, die via Klicks auf dem Smartphone ganz schnell zur Stelle sind. Dazu zählen nicht nur Essenslieferdienste wie Gorillas, Lieferando, Deliveroo, Wolt und Co., sondern auch andere Adhoc-Dienstleister wie der Fahrdienst Uber. Betroffen sind Millionen Jobs europaweit. Die meisten dieser Onlineplattformen behandeln ihre Beschäftigten wie Freiberufler. Durch die neue EU-Richtlinie könnten diese Betroffenen schon bald als Angestellte gelten. Und somit von Mindestlöhnen, Urlaubsanspruch und Schutz durch die Sozialversicherung profitieren. Nach einer Schätzung der Kommission sind in der Europäischen Union 500 solcher virtuellen Plattformen aktiv. Demnach behandeln neun von zehn Anbietern ihre Beschäftigten als Selbstständige.
Während einige Onlinefirmen aufgrund eigener, interner Umfragen immer davon sprechen, dass vielen Mitarbeitern die zeitliche Flexibilität durch die Freiberuflichkeit sehr entgegenkommt, hält der Baga-Organizer Ramazan Bayram dagegen. Bei der Unsicherheit durch die Scheinselbständigkeit sei eine „starke Abhängigkeit" der Betroffenen vorhanden. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die überwiegende Mehrheit damit einverstanden ist". Er verweist auf mehrere Proteste in europäischen Großstädten. So hätten Mitarbeiter von Yemek, einem Tochterunternehmen von Lieferando in der Türkei, sich erfolgreich gegen Arbeitsverhältnisse in Scheinselbstständigkeit gewehrt und tariflich festgelegte Arbeitsverträge erwirkt. Bayram plädiert für Tarif- und Flächentarifverträge für die Beschäftigten der Branche.