Tatjana Schmelzer wurde kurz vor ihrem zweiten Staatsexamen schwanger – und fiel durch. Heute ist sie glücklich mit ihrer zehnjährigen Tochter, einem achtjährigen Sohn und einer eigenen Kanzlei für Medizinrecht.
Aufgeräumt. Das ist der erste Eindruck, wenn man das Büro von Anwältin Tatjana Schmelzer betritt. Durch die Fenster dringt leise das für Saarbrücken typische monotone Rauschen der Stadtautobahn. In den Regalen reihen sich Akten und Gesetzestexte. Gearbeitet wird jedoch nicht ausschließlich hier im Büro. Ab und an wandert eine Akte mit nach Hause. Abends nach neun, wenn ihre beiden Kinder im Bett sind, arbeitet Tatjana Schmelzer dann weiter.
Selbst Laien wissen: Anwaltsberuf und Jurastudium sind arbeitsintensiv. Doch in den wachen Augen von Tatjana Schmelzer, die seit 2010 Rechtsanwältin und seit 2015 Fachanwältin für Medizinrecht ist, erkennt man ganz deutlich die dafür so notwendige Zielstrebigkeit. Dabei war ihr Berufsweg nicht vorherbestimmt. Als Kind wollte Tatjana, deren Großvater Apotheker war, Pharmazie und Medizin studieren. Doch als man bei ihr später zahlreiche Allergien diagnostizierte, musste sie diesen Plan ändern und ging nach dem Wirtschaftsgymnasium stattdessen ihrem neu erwachten Interesse für Jura nach. Sie fokussierte sich auf Medizinrecht und steht Ärzten bei allen juristischen Fragen zur Seite, die sich aus dem Betrieb einer Praxis ergeben. Das Abrechnungsrecht für niedergelassene Ärzte ist ihr Spezialgebiet. Der Kreis zu ihrem ursprünglichen Berufswunsch hat sich so also geschlossen. Bis Tatjana Schmelzer jedoch selbständige Fachanwältin wurde – mit Familie –, hatte sie einige Hürden zu überwinden.
Am Ende ihres Studiums, das zweite Staatsexamen stand ins Haus, war sie mit ihrer heute zehnjährigen Tochter schwanger. Die Doppelbelastung – Schwangerschaft und Examen – war nicht zu stemmen. Sie fiel durch. Was folgte, war eine tiefe Krise. War alles umsonst? Doch Familie und Freunde sprachen ihr Mut zu, und sie nahm sich ein Jahr Auszeit. Zumindest von der Juristerei, sie kümmerte sich nur um ihre Tochter. Danach nahm sie das Staatsexamen noch einmal in Angriff. Eine anstrengende, aufreibende Zeit: Zum Lernen fuhr sie zu ihren Eltern, gab ihre Tochter unten in deren Obhut und schrieb im Obergeschoss fünf Stunden mit Ohrstöpseln in den Ohren Probeklausuren. Der Stress zahlte sich aus. Im zweiten und damit letztmöglichen Versuch legte sie das zweite Staatsexamen erfolgreich ab.
Ein Jahr Auszeit von Juristerei
Doch das Verhältnis von Familie und Beruf blieb aufregend: Tatjana, die bereits seit ihrem Referendariat in einer Anwaltskanzlei jobbte, wurde mit ihrem zweiten Kind, einem Sohn, schwanger. „Einfach geht’s bei mir nie", sagt Tatjana schmunzelnd. „Ich muss offenbar immer ein paar Dinge gleichzeitig tun: Referendariat und Arbeit, Examen und Kinder, Kinder und Arbeit." Aber kann man Karriere und Kinder überhaupt kombinieren? „So sicher ich war, dass ich als Anwältin arbeiten will, so klar war für mich, dass ich Kinder bekommen möchte." Damit sie ihren Beruf weiterhin ausüben konnte, gingen beide Kinder schon früh in die Krippe. Ihr Mann arbeitet auf der Bank und ist projektbedingt auch mal an Wochenenden unterwegs, hat entsprechend wenig Zeit. Die Krippenplätze waren die einzige Möglichkeit, Familie und Beruf halbwegs in Einklang zu bringen. Denn nach wie vor ist es so, dass die Mutter als erste Ansprechpartnerin gilt, wenn mit den Kindern etwas ist. Das zeigte sich, als die Kinder bereits in Saarbrücken in den Kindergarten gingen. Obwohl ihr Mann in Saarbrücken arbeitete, war es ihr Handy, das klingelte, wenn sie ein Kind abholen musste. Dabei arbeitete sie damals im 35 Kilometer entfernten Dillingen in einer Kooperation mehrerer Unternehmen und Kanzleien für Steuerangelegenheiten und Recht.
Als sie sich dort vorstellte, hatte sie mit offenen Karten gespielt und gesagt, dass sie mit ihrem zweiten Kind schwanger sei. Ergebnis: Sie hat die Stelle nicht bekommen. Tatjana blieb hartnäckig. Doch selbst als sie sich zwei Jahre später – ihr Sohn ging mittlerweile in die Krippe –
erneut bewarb, blieb ihr die Anstellung verwehrt. Es lief auf eine freie Mitarbeit hinaus. Auf etwas Verbindlicheres wollte man sich einer Mutter zweier Kinder gegenüber offenbar nicht festlegen. Mütter hören im Gegensatz zu Vätern regelmäßig, wie sie das denn schaffen wollen. Von Gleichberechtigung kann in dieser Hinsicht keine Rede sein. Auch Tatjana hat das in Vorstellungsgesprächen erlebt: Wenn man als Mutter zweier Kinder einem Auswahlgremium von fünf älteren, männlichen Anwälten gegenübersitzt, sind die Chancen, die Stelle zu bekommen, äußerst gering. „Die erste Frage im Bewerbungsgespräch lautete: ‚Sie haben zwei Kinder. Wie stellen Sie sich das vor?‘" Damit war von Anfang an klar, dass sie diese Stelle weder bekommen würde noch bekommen wollte.
Entwicklungen wie diese seien ausschlaggebend, dass manche Frauen sich mit der Mutterrolle zufriedengeben, obwohl sie eigentlich gerne Karriere machen möchten, vermutet sie. „Ich habe das Gefühl, viele Frauen nehmen sich zurück, resignieren. Nach dem Motto: ‚Dann bleibe ich eben bei meinem Kind. Ich weiß nicht, ob manche dieses Kampfes überdrüssig oder einfach nicht kämpferisch veranlagt sind." Frauen müssten weitaus öfter kämpfen und sich rechtfertigen, wenn sie Kinder haben und arbeiten möchten. Das gelte nicht nur von Seiten der Arbeitgeber. Auch im privaten Umfeld scheinen die klassischen Rollenbilder in vielen Köpfen verankert zu sein. Grob vereinfacht: Frauen möchten ihre Kinder nicht benachteiligen, Männer möchten ihren Job nicht gefährden. Handlungsbedarf seitens des Gesetzgebers sieht die Juristin für die Problematik im Übrigen nicht. „Regelungen gibt es genügend." Es fehle oft an Eigeninitiative der Väter.
Prioritäten setzt Schmelzer nun selbst
Laut Väterreport 2016 des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bewerten es 82 Prozent der Bevölkerung positiv, wenn Väter eine Auszeit nehmen oder Arbeitszeiten reduzieren. Doch letztlich nimmt nur ein Drittel der Väter Elternzeit. Und von diesem Drittel bleiben wiederum fast 80 Prozent der Väter nur die Mindestdauer von zwei Monaten zu Hause. Hauptgrund ist die Angst vor Einkommensverlust.
„Väter müssen sich einfach mehr trauen", findet Tatjana Schmelzer. Auch ihr Schritt in die Selbstständigkeit war von Zweifeln begleitet. Doch sie hatte Mut und die Unterstützung ihres Mannes. Wenn man eingetretene Pfade laufe, brauche man sich nicht wundern, am Ende dort herauszukommen, wo jeder steht. Das wollte Tatjana nicht. Nachdem die Bürogemeinschaft in Dillingen sich aufgelöst hatte, wagte sie den großen Schritt. Am 1. Juli 2016 eröffnete sie ihre Kanzlei in Saarbrücken. Doch ist die Selbstständigkeit auch für die Familie ein Gewinn? Tatjana kann das nur bestätigen. „Es hat Vorteile, sein eigener Chef zu sein. Wenn ich mein Büro mal zusperren muss, weil was mit den Kindern ist, mache ich das." Sie kann ihre Prioritäten selbst wählen. Dabei kommt es gar nicht mehr so häufig vor, dass Familie und Beruf sich in die Quere kommen. Ihre Kinder sind mit acht und zehn Jahren alt genug, um nicht mehr von überall abgeholt werden zu müssen. Der Sohn kann zu Fuß ins Fußballtraining. Und sowieso müsse man beim Thema Kinderbetreuung die Kirche im Dorf lassen. „Auch wenn ich zu Hause bin, sind meine Kinder ganz froh, auch mal für sich zu sein. Die wollen keine Mama, die sie ständig bespaßt."
Vielmehr geht Tatjana Schmelzer mit gutem Vorbild voran. Ihre Kinder sehen an ihren Eltern, wie man sich selbst organisiert und auch dass das Geld, das man für schöne Dinge ausgeben möchte, von irgendwo kommt. Sie kommen gar nicht erst auf die Idee, den morgendlichen Schulbesuch infrage zu stellen. „Wir haben unsere Pflichten, unsere Kinder haben ihre. So einfach ist das."
Einmal kurz verschwimmen dann die Grenzen zwischen Beruf und Familie, als Tatjana Schmelzers Handy klingelt. Es ist ihre Tochter mit einem wichtigen Anliegen: Sie braucht dringend noch ein wenig Geld, um ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen. Kein Problem, denn die Akten und Gesetzestexte bleiben heute Nachmittag im Schrank, und Tatjana Schmelzer wird pünktlich aus dem Büro gehen. Weil sie es ihrer Tochter versprochen hat und weil sie sich die Freiheit nimmt, so zu entscheiden.